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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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da auch etwas auf das Parkett geschrieben?
    Tango und Mathematik.

11
    E s war fast Mitternacht, als sie an der bezeichneten Adresse aus dem Taxi stieg. Während der Fahrer nach Wechselgeld suchte, musterte Giulietta das Gebäude. Ein Sperrgitter war halb zur Seite geschoben. Durch die Glastüren ein paar Meter dahinter konnte sie eine spärlich erleuchtete Eingangshalle erkennen. Das Gebäude sah aus wie ein Sport- oder Jugendzentrum. Sie nahm das Wechselgeld und stieg aus dem kühlen Taxi in die dampfende Nachthitze hinaus. In der Eingangshalle saß ein Mann neben einer Tür hinter einem Tisch. Vor ihm stand ein gefalteter Karton mit der Filzstiftaufschrift: 5 Pesos. Daneben lagen Reklamezettel für Tango-Lehrer, Tango-Kurse, Tango-Schuhe. Sie legte einen Geldschein auf den Tisch und erhielt ein grünes Billett. Die Tür öffnete sich, Musik schwappte in den Vorraum, und ein zweiter Mann erschien, nahm ihr das Billett wieder ab und fragte sie irgendetwas. Irgendwo zwischen den unverständlichen Worten erkannte sie einen Laut, der wie »Reservierung« klang. Sie schüttelte den Kopf. Der Mann trat zur Seite und bedeutete ihr, einzutreten.
    Es dauerte ein paar Momente, bis sich ihre Augen an die spärliche Beleuchtung gewöhnt hatten. Das Lokal war nicht sehr groß und hoffnungslos überfüllt. Zwei Reihen Tische und Stühle grenzten die quadratische Tanzfläche nach allen Seiten hin ab. Die eng umschlungenen Paare dort waren so dicht gedrängt, dass sie mehr standen, als sich bewegten. Die Luft war stickig, die Musik laut. Giulietta kannte hier niemanden. Am liebsten wäre sie umgekehrt. Doch jemand kannte sie.
    Sie sah eine Hand, die ihr zuzuwinken schien. Lindsey. Giulietta bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch. Lindsey war aufgestanden und hieß sie mit einem Küsschen auf die Wangen willkommen. An ihrem Tisch saßen zwei ältere, beleibte Männer, die sich nun ebenfalls erhoben, als Leo und Chicho vorstellten und sie auf die gleiche Weise begrüßten. Lindsey sagte irgendetwas auf Spanisch zu den beiden und wechselte dann ins Französische. »Ich habe ihnen nur erklärt, dass du kein Spanisch kannst. Leo hat eben gemeint, du solltest besser ›Sonnenaufgang‹ heißen, und er hat dich gefragt, was du trinken möchtest.« Giulietta schielte verunsichert zu Leo hinüber, aber der lächelte sie nur an und entblößte dabei eine Zahnreihe, die eher an eine Sonnenfinsternis denken ließ. Chicho kaute derweil auf einem Zahnstocher und hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder der Tanzfläche zugewandt.
    »Keine Angst«, fuhr Lindsey fort, »die beiden sind völlig harmlos. Ich kenne sie schon ewig. Wie wär’s mit einem Weißwein?«
    Ohne ihre Antwort abzuwarten, gab sie die Bestellung weiter und Leo winkte den Kellner heran. Giulietta war noch damit beschäftigt, sich in dieser Situation einzurichten. In Berlin wäre es ihr im Traum nicht eingefallen, sich mit Typen wie diesem Leo oder Chicho an einen Tisch zu setzen. Lindsey schien ihre Gedanken erraten zu haben.
    »Du bist hier so sicher oder unsicher wie auf dem Schoß deines Großvaters. Wirklich. Irgendwann versuchen sie’s zwar alle, aber wenn du nicht willst, passiert auch nichts. Und Komplimente bedeuten überhaupt nichts. Heute hat mir einer nachgerufen, er wäre gerne der Sattel meines Fahrrades. Das ist nur Blödsinn. Im Grunde muss man sie bedauern. Manche Männer sind sogar heimlich hier.«
    »Wieso heimlich?«
    Lindsey beugte sich näher zu ihr hin, um nicht so stark gegen die Musik anschreien zu müssen.
    »Weil ihre Frauen zu Hause hocken und natürlich nicht wissen dürfen, dass ihre Männer sich an den jungen Mädchen den Bauch wärmen. Chicho wäre letzte Woche fast aufgeflogen. Er hat immer die Ausrede, er würde den Hund ausführen. Seine Frau muss ein bisschen doof sein, aber bisher hat sie wohl akzeptiert, dass er dienstagnachts von halb zwölf bis halb drei den Hund ausführt. Letzte Woche ist das arme Vieh leider im Auto verreckt, weil Chicho vergessen hat, das Fenster einen Spalt geöffnet zu lassen. Er musste dann auch noch einmal über den toten Hund drüberfahren, damit es wie ein wirklicher Unfall aussah.«
    Giulietta schaute Lindsey ungläubig an, fixierte dann den Mann auf der anderen Seite des Tisches und versuchte sich die Szene vorzustellen. Der Kellner kam und stellte zwei Gläser Weißwein auf dem Tisch ab. Sie tranken, Leo lächelte sie an, Chicho beobachtete die Tanzpaare und Lindsey zündete sich eine Zigarette

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