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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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geschlagen, ihr Oberkörper von der Tanzfläche weggedreht und ihren Begleiterinnen zugewandt.
    »Das Ganze ist ziemlich schwierig«, flüsterte Lindsey. »Wenn er zu direkt vorgeht, holt er sich vielleicht eine Abfuhr. Wenn er zu lange wartet, kommt ihm möglicherweise ein anderer zuvor. Ah, jetzt setzt er sich in ihrem Blickfeld hin. Wahrscheinlich wartet er nachher auf das letzte Stück der
tanda

    »Tanda?«, fragte Giulietta.
    »Das sind die Musikabschnitte. Drei oder vier Tangos, dann eine Pause. Das nennt man eine
tanda
. Am Ende der
tanda
trennt man sich. Das ist eine feste Regel. Das ist notwendig, damit man ohne peinliche Erklärung wieder zu tanzen aufhören kann. Die schöne Unnahbare hat noch nicht getanzt. Der Mann dort, der sich ihr nähert, weiß also nicht, wie sie tanzt. Wenn er sie zu Beginn der
tanda
auffordert, kann das sehr peinlich werden, denn drei oder vier Tangos mit einem zu ungleichen Partner sind eine Qual. Ich wette, er wird ihr erst beim letzten Stück der nächsten
tanda
ein klares Zeichen geben. Deshalb ist es wichtig, dass die Musikstücke angekündigt werden. Einen Troilo oder einen Salgan tanzt man anders als einen Pugliese. Daher muss man wissen, welches das letzte Stück ist.«
    Giulietta schaute fasziniert auf die kleine Szene, die sich vor ihren Augen zu entwickeln begann. Hatten sich die schöne Frau und der unbekannte Mann subtil verständigt? Oder bildete Lindsey sich das nur ein? Der Mann saß nun in unmittelbarer Nähe der Frau auf einem Stuhl am Rand der Tanzfläche und plauderte mit einem anderen Mann neben sich. Die Frau sprach mit ihren Freundinnen. Es gab für Giulietta kein ersichtliches Anzeichen einer Kommunikation zwischen den beiden. Die Tanzfläche war noch immer leer, Gläser klirrten, Stimmengewirr erfüllte den Raum. Noch immer kamen neue Gäste durch die Eingangstür herein. Dann erklang wieder die Stimme des Discjockeys aus den Lautsprechern, und fast zeitgleich setzte die Musik ein. Lindsey übersetzte: »Vier Stücke. Ein Di Sarli. Zwei Salgans und dann Troilo: Quejas de Bandoneon. Nein, mein Gott. Diese blöden Touristen.«
    Giulietta hatte es auch gesehen. Ein anderer Mann hatte sich direkt vor dem Tisch der unbekannten Schönen aufgebaut und sie zum Tanzen aufgefordert. Die Frau hatte nur kurz energisch den Kopf geschüttelt und sich sofort abgewandt.
    »So geht es also nicht«, sagte Giulietta und betrachtete mit einer Mischung aus Mitleid und Amüsement den abgewiesenen Bewerber.
    »Nein, allerdings«, sagte Lindsey. »Aber die lernen das einfach nicht. Die kommen hierher und denken, sie müssten nur ein paar Schritte lernen. Aber dass eine ganze Kultur damit zusammenhängt, das kapieren sie nicht.«
    »Aber warum ist das denn alles so kompliziert?«
    »Es ist nicht komplizierter als Tischsitten oder Umgangsformen, die eben nicht überall gleich sind.«
    »Ein wenig umständlich ist es aber schon, findest du nicht?«, fragte Giulietta verwirrt.
    Lindsey schüttelte den Kopf. »Umständlich und kompliziert ist es bei uns, wo keine allgemein verbindlichen Rituale mehr existieren. Ohne Rituale kann es keine Begegnung von Fremden geben. Totale Freiheit macht unfrei.«
    Lindsey lächelte plötzlich und drückte endlich ihre Zigarette aus. »Entschuldigst du mich«, sagte sie dann und erhob sich. Giulietta begriff erst nicht, was geschehen war. Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein Mann neben Lindsey und führte sie auf die Tanzfläche. Offenbar hatte sie die ganze Zeit über nebenher noch eine Unterhaltung geführt, von der Giulietta nichts bemerkt hatte. Jetzt standen die beiden am Rand der Tanzfläche voreinander, berührten sich jedoch noch nicht. Sie wechselten ein paar Worte, der Mann beugte sich ein wenig zu ihr hin, um sie besser zu verstehen. Es dauerte fast eine Minute, bevor sie allmählich in eine Umarmung hineinglitten und sich dem Bewegungsstrom der anderen Tänzer überließen.
    Giulietta lehnte sich zurück, trank von dem schlechten und bereits lauwarmen Weißwein, unterdrückte eine Grimasse, da Leo sie gerade anschaute, und stellte das Glas wieder auf dem Tisch ab. Sie erwiderte Leos freundliches Lächeln und beobachtete dann die Tanzpaare. Die meisten Frauen hatten die Augen geschlossen und hingen wie schlafend an der Brust ihrer Tanzpartner. Deren Gesichtsausdruck verriet indessen äußerste Konzentration, da sie sich einen Weg durch das Gewimmel suchen mussten, ohne die kostbare Fracht in ihren Armen irgendwo anzustoßen. Es gab

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