Drei Minuten mit der Wirklichkeit
entgegen.
»Und wenn du die Argentinier fragst, erfährst du erst recht nichts. Erst haben sie den Tango unterdrückt, bis es in Europa plötzlich Mode wurde, Tango zu tanzen. Dann haben sie ihn wieder importiert und brüsten sich damit, obwohl er ihnen zugleich peinlich ist. Und jetzt passiert das Gleiche wieder. Dieses Land ist schizophren, musst du wissen. Hier gibt es mehr Psychoanalytiker als in New York. Bist du schon Metro gefahren?«
Giulietta beäugte skeptisch den heißen Sud in der ausgehöhlten Frucht und versuchte gleichzeitig, sich auf Lindseys komplizierte Reden einen Reim zu machen. Die Frau faszinierte sie. Aber wovon sprach sie bloß?
»Ja. Klar bin ich Metro gefahren«, antwortete sie und saugte vorsichtig an dem silbernen Trinkröhrchen. Das Getränk schmeckte nach gar nichts. »Wieso?«
»Wegen der Zeitungsstände. Hier kann man in der Metro die gesammelten Werke von Sigmund Freud am Kiosk kaufen. Freud und Lacan am Zeitungskiosk, zwischen Automagazinen und Sexheftchen. Die Leute kommen vom Therapeuten und kaufen sich auf dem Heimweg die Bücher, die sie dort auf dem Schreibtisch gesehen haben.«
»Wer ist Lacong?«
»Lacan. So eine Art Einstein der Psychoanalyse. Weltberühmt, und kein Mensch weiß so recht, was er eigentlich gesagt hat. Mate schmeckt dir wohl nicht, oder?«
»Wie aufgebrühtes Gras«, sagte Giulietta.
»Ist es ja auch«, erwiderte Lindsey. »Was anderes gibt es hier auch nicht. Die importieren ja alles. Typisch argentinische Dinge kannst du an einer Hand abzählen. Rindfleisch. Tango. Mate-Kraut. Und
dulce de leche
.«
»Was ist denn das?«
»So eine Art gesüßte Kondensmilch. Hier. Du musst mehr Zucker reinmachen.«
Giulietta tat wie ihr befohlen, und danach schmeckte der Sud wie warmes Zuckerwasser. Sie reichte Lindsey den Kürbis zurück und blickte sich im Zimmer um. Die Einrichtung war spartanisch. Auf einem Schreibtisch stand ein aufgeklappter tragbarer Computer, der sich vergeblich dagegen wehrte, von Bücherstapeln und Fotokopien erdrückt zu werden. Ein Bett gab es nicht. Nur ein Matratzenlager. Alle Wände waren dunkelrot gestrichen und von oben bis unten mit Fotos, Postern, Konzertplakaten und allen möglichen Notizzetteln gespickt. Neben dem Matratzenlager stand ein Aluminiumgestänge, das von einer zeltartigen Bespannung umhüllt war. Offenbar der Kleiderschrank. Dazwischen behauptete sich ein Regal mit akut einsturzgefährdeten Stapeln aus Videokassetten sowie ein Fernseher mit eingebautem Videorecorder. Die Leuchtanzeige stand auf 00:00 und blinkte.
Auf der Herfahrt war in der halben Stadt der Strom ausgefallen. Als sie nach San Telmo eingebogen waren, herrschte völlige Finsternis. Das Taxi war die Straße hinabgeschlichen, um ein paar Ecken gebogen und hatte vor einem Haus mit vergitterten Fenstern gehalten. Über ihren Köpfen war der Verkehrslärm von einem Autobahnzubringer zu hören gewesen. Nachdem Lindsey nacheinander vier separate Schlösser aufgeschlossen hatte, waren sie durch einen dunklen Innenhof gelaufen und am Ende in diesem Zimmer gelandet. Kurz darauf hatte der Videorecorder zu blinken begonnen. Der Strom war wieder da, aber Lindsey beließ es bei Kerzenbeleuchtung.
»Warum kommst du denn immer wieder hierher, wenn du Argentinien so furchtbar findest?«, fragte Giulietta.
Lindsey zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Das ist ja das Verrückte. Alle hier jammern, das Leben sei furchtbar hart, nichts funktioniere, aber wenn man einmal ein paar Monate hier verbracht hat, kommt man immer wieder. Es gibt sogar ein paar Tangos über das Thema:
Volver, Sur, Siempre se vuelve a Buenos Aires
…«
»Was heißt das?«
»Immer das Gleiche.
Volver
heißt einfach
zurückkehren
.
Sur
bedeutet
Süden
, womit die Vorstadt gemeint ist.
Man kehrt immer nach Buenos Aires zurück
… es ist, als ob einen diese Stadt von innen tätowiert. Es ist schwer zu erklären. Plötzlich passt man nirgendwo anders mehr hin.«
Giulietta stand auf, nahm eine der Kerzen vom Tisch und betrachtete die Bilder an den Wänden. Sie spürte Lindseys Blick auf ihrem Körper. Die Einladung hierher war offenbar nicht ganz interesselos.
»Wie wär’s mit Rotwein?«, fragte Lindsey. »Ich habe eine gute Flasche. Aus Mendoza. Das ist so was wie Bordeaux. Willst du?«
»Hmm, ich weiß nicht so recht. Es ist ja schon ziemlich spät, findest du nicht? Was sind das für Aufnahmen?«
Lindsey machte sich an einem Schrank zu schaffen, grub zwischen
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