Drei Minuten mit der Wirklichkeit
sie hier im Toilettenvorraum einer verqualmten Tangokneipe in Buenos Aires, völlig einsam und allein, der Sprache nicht mächtig, mit dieser furchtbaren Traurigkeit. Draußen wartete dieses Biest von Nieves auf sie, und Lindsey, die sie kaum kannte, wollte sie trösten. Aber was sollte sie ihr denn schon sagen? Die Toilettenfrau schaute zu ihr auf und ließ die Hand über ihrem Warensortiment kreisen: Zigaretten, Kaugummi, Parfümproben, Kondome, Haargel, Schnürsenkel. Der Anblick war so niederschmetternd, dass es schon fast wieder komisch wirkte. Die uralten Kacheln, die stickige Luft, die Glühbirne an der Decke und darunter diese arme alte Frau mit ihren fünfeinhalb Habseligkeiten und ihrem Toilettenladen.
Giulietta drehte sich zu Lindsey um und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Nein. Es ist nichts. Es ist alles zu kompliziert. Entschuldige.«
Lindsey legte den Arm um sie. »Wie wär’s mit einem Mate. Bei mir. Hm? Kennst du Mate überhaupt? Schmeckt schrecklich. Aber man muss das getrunken haben.«
Die Zärtlichkeit der Frau tat ihr wohl. Aber zugleich wollte sie ihre Stärke zurückgewinnen. Sie war so schwach, so labil. Beim kleinsten Anlass gingen die Gefühle mit ihr durch. Das konnte nicht so weitergehen. Draußen erklang plötzlich brausender Applaus.
»Danke, das ist nett von dir«, sagte Giulietta.
»Komm«, sagte Lindsey und hakte sich bei ihr unter. »Wir schauen uns noch schnell Hector an, und dann fahren wir zu mir, einverstanden?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie Giulietta mit ins Lokal hinaus, wo soeben Hector und seine Partnerin in der Mitte des leer gefegten Parketts zu tanzen begonnen hatten. Es war nicht daran zu denken, an ihren Tisch zurückzugelangen, und so betrachteten sie das Schauspiel eng aneinander gepresst an der Wand stehend. »Schau gut zu«, flüsterte Lindsey ihr noch ins Ohr, »so etwas sieht man nicht oft. Hector und Blanca. Das Stück ist von Pugliese. La Yumba.«
Giulietta war schon nach den ersten Takten und Schritten wie verhext von der kombinierten Kraft dieser Musik und der Bewegung, die sie in dem Tanzpaar entfesselte. Und noch ein anderer, unheimlicher Gedanke durchfuhr sie, während sie Hector Goyechea, Damiáns Lehrer, tanzen sah: Damián hatte gerade einmal die Oberfläche dieser Kunst gekratzt und war ihr dann ausgewichen. Was Hector hier vorführte, war ungleich gewaltiger. Der Mann war alt. Der Mann war nicht schön. Sein Körper war alles andere als der eines Tänzers. Und dennoch … welch erdverbundene, ruppige Eleganz! Welch grobschlächtige Kraft in den Bewegungen, und zugleich solch eine Behutsamkeit, mit der diese Kraft die Frau zu umgarnen suchte. Als wollte eine rohe Eisenhand ein Küken streicheln! Die Musik tat das Übrige. La Yumba. Eine Sequenz hart angeschlagener Bandoneonakkorde, als treibe ein Dampfhammer vibrierende Tonpflöcke in die träge Luft hinein. Und Hector vermochte diese Wucht aufzunehmen. Die Schöne und das Biest, dachte Giulietta. Doch das Biest war viel schöner als die Schöne und hatte seine Erlösung längst hinter sich. Giulietta reckte den Hals und heftete ihren Blick auf Hectors Beine. Alles geschah dort. An einer Stelle tanzte er Primera Junta, aber nicht Damiáns Fassung. Und jetzt sah sie auch, dass dieser Schritt ursprünglich aus einem Guss war. Mann und Frau spielten klar definierte Rollen, aber sie wirkten natürlich, harmonisch. Damiáns Fassung, die sie in Berlin gesehen hatte, brach die Figur an zwei Stellen. Man konnte sie nicht improvisieren. Man musste vorher eine Absprache treffen, sonst stürzte man. Hier war das nicht der Fall. Der Ablauf war völlig natürlich. Und auch die anderen Bewegungen des Paares wirkten wahrhaftiger als Damiáns Stil. Wann immer Blanca Gefahr lief, aus der Bewegung zu geraten, war Hector da, sie aufzufangen, die Energie des Paares aufrechtzuerhalten. Es war wundervoll anzusehen. Sie vertraute ihm blind, und er ließ sie niemals im Stich. Dafür gab sie ihm Raum für immer gewagtere Figuren, für immer schönere Augenblicke. Er schlug vor; sie war frei, zu folgen. Und es entstand Schönheit.
13
D er Mann führt und denkt«, sagte Lindsey. »Die Frau verführt und lenkt.«
Sie reichte Giulietta einen ausgehöhlten Kürbis, aus dem ein silbernes Trinkröhrchen herausragte.
»So ist es und nicht anders«, fügte sie dann hinzu. »Vergiss alles, was du über Tango zu wissen glaubst. Es ist alles falsch.«
Giulietta nahm das seltsame Trinkgefäß
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