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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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weniger Rempeleien und Zusammenstöße als heute Nachmittag in der Confitería Ideal, obwohl hier mehr Menschen auf engerem Raum versammelt waren. Irgendwie brachten die Männer es fertig, zu drehen, zu gehen, die Richtung zu wechseln und auch noch überraschende Tanzfiguren einzubauen, ohne die anderen Tänzer zu behindern, die natürlich auch um einen interessanten und abwechslungsreichen Tanz bemüht waren. Es war heiß und stickig, trotz der Klimaanlage. Zigarettenqualm vermischte sich mit unterschiedlichsten Parfümdüften. Erstaunlich, dass man keinen Schweiß roch. Damián hatte erzählt, dass er während einer
Milonga
zweimal das Hemd wechselte, und nur der liebe Gott wusste, wie viele Parfümflaschen an solch einem Abend geleert wurden.
    Sie schaute zur Tür, wo immer mehr Gäste in den Raum hineinströmten. Sie musterte jedes Gesicht, so weit sie das aus der Entfernung konnte, aber Damián war nicht dabei. Allein an seinem Gang hätte sie ihn sofort erkannt. Aber er war nicht hier, weder dort am Eingang, wo die Neuankömmlinge sich umschauten, sich begrüßten und umarmten, noch auf der Tanzfläche, die jetzt so voll gepackt war wie ein Stadtbus am Feierabend. Wie machten die das bloß, auf solch engem Raum zu tanzen?
    Und plötzlich spürte sie einen Blick auf sich ruhen. Zwei Augen, die sie hasserfüllt anblickten. Giulietta fuhr zusammen. Nieves!

12
    S ie stand keine drei Meter von ihr entfernt an der Wandtäfelung. Sie trug eine dünne Seidenjacke über ihrem Abendkleid und war offenbar gerade erst in das Lokal gekommen. Giulietta starrte Nieves an. Und Nieves starrte zurück. Dann wurde sie von irgendwelchen Leuten abgelenkt, die sie begrüßen wollten. Es schien hier kaum jemanden zu geben, den sie nicht kannte. Umarmungen, Küsschen, hier und da ein Schwätzchen. Giulietta versuchte, sich wieder auf die Tanzfläche zu konzentrieren, aber sie fühlte sich dabei wie von einem Raubtier belauert. Sie spürte genau, dass Nieves sie aufs Schärfste beobachtete. Immer wieder kam ihr eisiger Blick auf ihr zu ruhen. Sie versuchte, nicht in die Richtung der verhassten Frau zu schauen. Doch erst als die Musik aussetzte und Lindsey zurückkam, drehte Nieves sich um und begann im Weggehen ein Gespräch mit einem Mann.
    »Uff, mein Gott, ist das voll. Man kann sich kaum bewegen.« Lindsey zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich das Gesicht ab. »Das ist wegen Hector. Sonst wäre es nie so voll.«
    Der Ansager begann wieder, allerlei Ankündigungen zu machen. Plötzlich wurde geklatscht.
    »Was sagt er?«, fragte Giulietta.
    »Er begrüßt besondere Gäste. Die Neotango-Gruppe ist aus Berlin zurück. Stimmt, du hast die Show ja gesehen, oder? Er sagt, sie hätten einen großen Erfolg gehabt.«
    »Und Damián. Was sagt er über Damián?«
    Lindsey zuckte mit den Schultern. Doch jetzt erklang sein Name gut hörbar aus den Lautsprechern. Lindsey nickte aufgeregt. »Ah ja, jetzt erwähnt er ihn gerade, die großartige Show unter der Regie von Damián, el loco, der noch in Berlin geblieben ist, um den Deutschen den Tango beizubringen …«
    »… aber das stimmt doch überhaupt nicht«, entfuhr es Giulietta.
    »Was stimmt nicht?« Lindsey zog eine Zigarette aus ihrem Päckchen und suchte auf dem Tisch nach ihrem Feuerzeug.
    »Damián. Er ist überhaupt nicht in Berlin. Er ist hier. In Buenos Aires.«
    Lindsey stutzte. »Aha. Nun ja, Félix weiß auch nicht immer alles so genau.«
    »Félix?«
    Sie hatte das Feuerzeug gefunden.
    »Der Ansager. Félix Picherna. Du kennst Damián wohl näher, oder?«
    Lindsey spitzte die Lippen und schaute Giulietta herausfordernd an, während sie die Zigarette zum Anzünden an den Mund führte. Giulietta hatte plötzlich Tränen in den Augen. Lindsey erschrak. Doch bevor sie noch reagieren konnte, war Giulietta aufgesprungen und bahnte sich mit gesenktem Kopf einen Weg durch die eng stehenden Menschen.
    Lindsey ließ ihre Zigarette fallen und folgte ihr. Aber erst im Vorraum der Toiletten holte sie sie ein. Giulietta stand ratlos dort und schaute irritiert auf die Auslagen der Toilettenfrau, die hier einen richtigen kleinen Laden auf einem Klapptisch unterhielt.
    »Hab ich etwas Falsches gesagt …«, begann Lindsey.
    Giulietta schüttelte stumm den Kopf. Alles war so verrückt. Was um alles in der Welt hatte sie sich nur von dieser Reise versprochen? Warum war sie nicht in Berlin geblieben, hatte diese Enttäuschung geschluckt und ihr Leben in Angriff genommen? Jetzt stand

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