Drei Wunder (German Edition)
hielt.
Vielleicht hatte ihr Verstand ihr einen Streich gespielt, aber einen Moment lang war sie ziemlich sicher, was sie gesehen hatte. Es sah nicht nur wie das Boot ihres Großvaters aus. Es war das Boot mit dem Schriftzug Sybil auf einer Seite, und über dem Bug war ein rotblonder Lockenschopf zu sehen, der in der rauen Brise durcheinandergewirbelt wurde.
»Was ist?«, fragte Miles. »Gefällt es dir nicht?«
Olivia schüttelte den Kopf, schluckte schwer und lächelte Miles an.
»Im Gegenteil«, sagte sie leise. »Ich liebe es.«
42
»Sehr nett«, schaffte es MrWhitley, trotz seines strengen Blicks und des energisch vorgeschobenen Kinns, hervorzustoßen, und stellte den Fernseher ab. Olivia und Miles rutschten unruhig auf den »heißen Stühlen« umher, zwei Klappstühlen, die vorne im Klassenzimmer aufgestellt worden waren, und warteten auf die Kritik von Whitley und ihren Mitschülern.
»Olivia«, sagte MrWhitley. Es hatte ein paar Wochen gedauert, aber er hatte schließlich angefangen, sie bei ihrem richtigen Namen zu rufen. »Ich frage mich, ob du uns ein wenig darüber erzählen kannst, warum ihr diese Szene gewählt habt, die Szene, wie Lily am Ende des Romans ihr Gemälde schließlich vollendet?«
Olivias Gedanken rasten. Sie hatte nicht gewusst, dass sie ihre Projekte verteidigen mussten, und sie hatte nichts vorbereitet. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass Miles derjenige gewesen war, der die Szene ausgewählt hatte. Aber sie konnte ihn diesmal nicht im Stich lassen. Nicht schon wieder.
»Ich bin nur neugierig«, fuhr Whitley fort und klopfte mit seinem Stift gegen die Innenseite seines Handgelenks, »denn zu Anfang unserer Englischstunde schien es mir, als könntest du dich gar nicht mit der Protagonistin identifizieren. Ich frage mich, ob deine Gefühle sich geändert haben könnten.«
»Das stimmt so nicht«, sagte Olivia plötzlich, räusperte sich und beugte sich auf ihrem Stuhl nach vorne. Sie war sich plötzlich sicher, dass sie die richtigen Worte finden würde. Es war ein altes, vertrautes Gefühl, so ähnlich wie sich daran zu erinnern, wie Fahrradfahren funktioniert. Sobald man auf dem Sattel saß, ging alles wie von selbst.
»Ich habe nie gesagt, ich könne mich nicht mit Lily identifizieren«, fuhr sie fort, ihre Stimme war klar und ruhig. »Ich denke, sie ist das Herzstück des Buches. Und ihre Verwandlung am Schluss, als sie endlich in der Lage ist, ihre Malerei zu vollenden, nachdem sie nichts mehr hat, was sie zurückhält … das ist eine der wichtigsten Szenen im Roman. Es ist der Moment, in dem sie erkennt, wer sie ist.«
MrWhitley nickte unbestimmt und ging eine Fensterlänge an der zum Hof zeigenden Wand entlang.
»Und was war es?«, fragte er mit Bedacht. »Was meinst du, hat sie die ganze Zeit zurückgehalten?«
Olivia meinte zu spüren, wie jedes Augenpaar in der Klasse Löcher in ihren Kopf brannte. Miles’ Pilzschuhe rutschten unter dem Stuhl neben ihr hin und her, und sie merkte, wie er die Luft anhielt. Ihr Herz klopfte, aber diesmal war es anders. Alle im Klassenzimmer warteten auf ihre Antwort, und das war in Ordnung. Diesmal hatte sie etwas zu sagen.
»Die Vergangenheit«, antwortete sie schließlich. »Die Vergangenheit hat sie zurückgehalten.«
***
Olivia eilte die Flure entlang zur Turnhalle, ihr Herz klopfte wie verrückt.
Der letzte Gong des Tages war endlich ertönt, und sie wusste, wenn sie noch mehr Zeit verlor, würde die Turnhalle – die zurzeit als Callas Secondhand-Laden-Annahmestelle fungierte – nicht nur vor freiwilligen Helfern und Spendern wimmeln, sondern dort wäre auch noch das Basketballteam der Jungen, die sich vor dem Training aufwärmten. Es war schwierig genug, die richtigen Worte zu finden, um sich bei Calla zu entschuldigen. Olivia konnte sich nicht ansatzweise vorstellen, wie unangenehm es wäre, dies vor einer größeren Zuhörerschaft zu tun.
Sie streckte den Kopf durch die offene Tür und war erleichtert, Calla allein in der leeren Halle zu sehen. Sie sortierte Kleiderspenden und packte sie in Pappkartons.
Olivia holte noch einmal tief Luft und ging los, ihre alten Turnschuhe quietschen auf dem Parkett der Turnhalle.
Ursprünglich hatte sie gehofft, Calla nach Whitleys Stunde abfangen zu können, hatte gehofft, die Stimmung mit ein paar Witzen darüber auflockern zu können, wie schlecht ihre Qualitäten als Schauspielerin waren. Aber Calla hatte gefehlt, wahrscheinlich um Schilder für die Annahme der Kleiderspenden
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