Drei Wunder (German Edition)
eigenen Zimmer, hörte Olivia ein flatterndes Geräusch hinter ihrem Vorhang.
Zwischen der Fensterscheibe und dem Fliegengitter klemmte Olivias Lieblingsfoto, das Familienfoto vom Boot, das Violet sich gestern noch angesehen hatte.
»Hm«, stieß Olivia hervor und fragte sich, wie es dorthin gekommen war. Hatte sie es nicht zurück auf den Schreibtisch gelegt?
Olivia schloss das Fenster und setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl. Sie studierte die lächelnden Gesichter auf dem Foto, die Mädchen Arm in Arm, eingerahmt von ihren Eltern, und erinnerte sich an diesen warmen Sommertag.
Ihr Vater hatte das Boot gelenkt, ihre Mutter hatte in ihrem blau-weiß gestreiften Badeanzug neben ihm gesessen, und der große Strohhut, den sie in der Sonne immer trug, verdeckte eine Hälfte ihres Gesichts. Nicht lange, nachdem der automatische Auslöser das Foto gemacht hatte, war der Hut aufs Wasser hinausgeweht worden. Mac hatte das Boot gewendet, um ihn zu retten, war mit der Hand übers Wasser gefahren, bis er den durchgeweichten Hut eingefangen hatte, und hielt ihn dann triumphierend hoch über den Kopf. Moms Held.
Er hatte gefragt, wer das Boot nach Hause lenken wollte, und aus irgendeinem Grund hatte Violet darauf bestanden, dass Olivia an der Reihe wäre. Olivia hatte abgelehnt und versichert, sie wolle nicht – sie näherten sich dem Hafen, und es machte sie nervös, so nahe an den anderen Booten zu sein. Aber Violet gab einfach nicht nach.
Olivia erinnerte sich daran, wie die Gesichtszüge ihrer Schwester sich verändert hatten, immer energischer geworden waren und ihre Stimme lauter geworden war.
Tu es einfach , hatte sie gedrängt. Komm schon. Leb mal ein bisschen.
Olivia wusste noch genau, wie aufgebracht, wie frustriert, genervt und wie wütend sie auf ihre Schwester gewesen war, weil sie sie zu etwas zwang, wovor sie Angst hatte. Genau so hatte sie sich gefühlt, als Violet sie dazu gedrängt hatte, zuzugeben, dass sie Soren mochte. Und genau so hatte sie sich gestern gefühlt, als Violet diese furchtbaren Sachen gesagt hatte.
Zumindest habe ich gelebt.
Olivia sah wieder auf das Foto hinab und erinnerte sich daran, was als Nächstes geschehen war. Sie hatte es satt gehabt, sich weiter von Violet aufziehen zu lassen, hatte das Steuerrad gepackt und das Boot nach Hause gelenkt, in den Hafen und bis zur Anlegestelle, ganz allein.
Olivia lächelte und schüttelte den Kopf.
Niemand weiß so gut, welche Knöpfe er bei uns drücken muss, wie jemand aus der Familie , klang Poseys Stimme in Olivias Ohren. Dann hörte sie Violet, an ihrem letzten gemeinsamen Abend auf Großvaters altem Boot: Du wirst Freundinnen brauchen, wenn …
Violet hatte es gewusst.
Sie hatte gewusst, dass Olivia den Wunsch nie alleine aussprechen konnte, selbst wenn es Zeit war. Sie hatte gewusst, dass ihre Schwester einen kleinen Anstoß brauchte, um anzufangen, ihr Leben alleine zu leben. Und vielleicht, ganz vielleicht, hatte sie Olivia absichtlich provoziert.
Olivia lehnte sich mit schwerem Kopf und müden Augen zurück. War sie wirklich bereit, ihr Leben allein in die Hand zu nehmen?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Olivia fand eine Reißzwecke in ihrer obersten Schreibtischschublade und machte das Foto an der Wand neben ihrem Bett fest, glättete die Ecken und drückte es fest an seinen Platz.
41
Olivia stand vor dem Peoples’s Republic und sah besorgt auf die Uhr, während die Minuten verstrichen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, bevor es gongte, und sie hatte gehofft, Miles noch vor dem Unterricht zu erwischen, wenn er sich Kaffee holte. Es lag eine gewisse Frische in der frühen Morgenluft, und Olivia hatte sich entschieden, wieder einmal ihre Fleecejacke zu tragen, den Reißverschluss des weichen hohen Kragens bis unters Kinn hochgezogen.
Am Morgen im Bus hatte Olivia überlegt, welche Möglichkeiten sie hatte, mit dem Desaster umzugehen, das sie ganz sicher in der Schule erwarten würde. Der Gedanke, ihren letzten Wunsch dafür zu verwenden, alles mit Calla, Soren und Miles in Ordnung zu bringen, war ihr dabei noch ein- oder zweimal durch den Kopf gegangen. Doch sie wusste, Violet hatte recht: Olivia musste sich ihren Problemen stellen, auch wenn diese Probleme sich so hoch vor ihr auftürmten, dass sie kaum darüber hinaussehen konnte.
Olivia wollte schon aufgeben, als die mit Flyern gepflasterte Glastür aufschwang. Bowie kam heraus, eine vegane Quarktasche in einer Hand und einen Becher dampfenden
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