Drei Wunder (German Edition)
zu sehen sie gehofft hatte:
Madonna.
45
Als Olivia an diesem Abend ins Bett ging, war sie zu kaputt, um ihr Gesicht zu waschen oder die Kleider für den nächsten Tag zurechtzulegen. Sie hatte sogar vergessen, ihre Hausaufgaben zu machen, und zum ersten Mal war es ihr wirklich egal.
Ihr Kopf fiel schwer aufs Kissen, und sie zog die Decke hoch zum Kinn, um endlich in den dringend benötigten Schlaf einzutauchen. Doch während die Minuten in Neonziffern neben ihr langsam verstrichen, drehte und wälzte sie sich ruhelos. Sie seufzte schwer und streckte die Hand aus, um die Lampe anzuknipsen. Ihr Blick landete auf ihrer Schranktür, die nur einen Spalt offen stand. Der Zipfel einer Kleiderhülle spähte heraus – das letzte Kleid von Posey!
Olivia warf die Decke zurück und ging auf Zehenspitzen über die kühlen Holzdielen. Sie zog die Schranktür auf, holte das Kleid heraus und kniete sich wieder auf ihr Bett, um den Reißverschluss aufzuziehen.
Das Kleid war umwerfend.
Olivia zog ihren Pyjama aus und schlüpfte vorsichtig in das Kleid. Sie stieß die Schranktür mit der Zehenspitze zu und lächelte ihr Spiegelbild an.
Das Kleid war in einem wunderbaren warmen Farbton gehalten, der allgemein als Violett bekannt war.
Olivia ging zum Fenster und schob es nach oben, schwang ihre Beine über das Fensterbrett und kletterte auf den schmalen Eisenbalkon hinaus. Seit diesem ersten Morgen mit Violet war sie nicht mehr hier draußen gewesen. Sie hatte es aufgegeben, von hier aus irgendwelche Sterne sehen zu wollen. Sie setzte sich auf das Fensterbrett, zog die Füße an und wandte den Blick zum Himmel hinauf. Die Dunkelheit, die sie umgab, fühlte sich schwer an, doch Olivia mochte es, wie klein sie sich dabei fühlte.
Der blauschwarze Himmel war durch dichten Nebel verdeckt. Doch zum ersten Mal störte sie das nicht. Sie begann, diesen Schleier zu mögen, der über der Stadt hing, als wolle er sie daran erinnern, jene seltenen Momente strahlender Sonne bewusster zu genießen.
Olivia atmete tief ein, ihre Lungen öffneten sich der kühlen Nachtluft.
Posey hatte ihr gesagt, sie würde wissen, was sie sich wünschen sollte, wenn die Zeit dafür reif war – und dass ihr Wunsch von Herzen kommen sollte. Bis eben hatte sie nicht gewusst, wie ihr Wunsch lauten würde, aber als sie dieses letzte Kleid zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie gewusst, dass sie bereit war, ihn auszusprechen.
Jetzt, hier draußen auf dem Balkon, an das Haus gelehnt, das sich endlich langsam wie ihr Zuhause anfühlte, schloss sie die Augen und lauschte.
Zuerst hörte sie den Wind, eine sanfte Brise, die sie umfing wie ruhige Ozeanwellen.
Sie spürte den stetigen Rhythmus ihres Pulses, das Blut, das durch ihre Venen rauschte.
Und dann war da eine Stimme. Ihre eigene Stimme – zuerst ganz leise, doch sie wurde immer lauter, kam von irgendwo tief in ihr, einem Ort, von dessen Existenz sie nicht einmal etwas geahnt hatte.
Ich bin bereit , sagte sie. Ich bin bereit zu leben. So wie Violet es mir gezeigt hat. Und …
Olivia öffnete die Augen.
Da war er. Ihr letzter Wunsch. Ich wünsche mir nicht, zu vergessen , dachte sie . Ich wünsche mir nicht, dass der Schmerz aufhört. Ich will alles fühlen. Ich will leben. Ich wünschte nur, ich hätte mich verabschieden können .
Olivia strich über den Rock ihres Kleides und hielt den kleinen Schmetterling aus Stoff zwischen ihren beiden Fingern.
»Auf Wiedersehen, Violet«, sagte sie leise in die Dunkelheit. »Ich wünschte, du könntest mich hören.«
Olivia hielt den Atem an, und es kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor, während sie darauf wartete, dass etwas geschah.
Schließlich wurde der Druck in ihren Lungen zu stark, und sie atmete aus. Ihre Schultern sanken nach vorne. Enttäuscht ließ Olivia den Saum ihres Kleides los, ihre Arme hingen kraftlos an ihrem Körper hinab.
Sie wollte schon wieder ins Haus klettern, als sie eine kleine Bewegung spürte.
Dort, in den Falten des violetten Stoffs, den sie in ihrem Schoß zusammengerafft hatte, war der kleine Schmetterling, er schlug mit seinen Flügeln gegen den Stoff und versuchte fortzufliegen.
Ohne nachzudenken hob Olivia den Stoff an und schüttelte ihn sacht, gab dem Schmetterling die Freiheit, die er brauchte, um loszufliegen.
Olivia sah zu, wie der schimmernde Falter sie umkreiste, fast spielerisch umhergaukelte, bis er schließlich davonflatterte, über die Dächer flog und immer höher und höher stieg.
Einen Moment lang dachte
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