Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
Boden.
Die kühle Stimme da unten sagt als Nächstes: »Fang an mit ›Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht ...‹ Bitte. Jetzt.«
Ich versuche, mich zu konzentrieren, schlucke, lasse die Zunge im Mund kreisen, wie das der Hauptdarsteller von Laskarows Künstlertheater immer tat vorm Auftritt. Für wen spiele ich?, frage ich mich. Schlomo hat mir die Geschichte von der dicken Frau erzählt. Die sitzt selbst dann, wenn du überhaupt keine Lust hast, da unten und freut sich auf deinen Auftritt, und für sie musst du so gut sein wie nur möglich ... Aber heute sitzt da eine Person, die Bescheid weiß, eine Überlegene, und von ihr geht nichts Freundliches aus, keine Erwartung. Eher so etwas wie Langeweile kommt mir aus dem verdunkelten Raum entgegen.
Ich schließe die Augen. Muss mich wegdenken. Ich bin auf meiner »Bühne« in den Pyrenäen. Meer und Himmel. Der sanfte Schwung der Buchten. Der Wind, die Hand, die mir das Haar hinters Ohr streicht ... Erinnerungen, die nicht mehr schmerzen, sondern zu Helfern werden ...
Nun bin ich so weit. Ich beginne. Ich habe begonnen. »Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht ... «
Und auf Julias Monolog antwortet »Romeo« aus dem Saaldunkel! »Ich schwöre, Fräulein, bei dem heil’gen Mond ... «
Felice springt in andere Szenen, balanciert den Text auf einem schmalen Grad zwischen Sachlichkeit und Einfühlung, andeutend nur, ohne Pathos und trotzdem beteiligt. Ein Gedanke schießt so am Rand vorüber: Kann sie den Romeo auswendig? Ja, wahrscheinlich kann sie das ganze Stück auswendig.
Aber wie auch immer: Ich spüre, sie gibt mir verlässlichen Halt. Also beginne ich, sie »anzuspielen« da im Dunkel. Felice-Romeo und ich in der Balkonszene, der ersten Begegnung der Liebenden, wie ich sie auf dem Felsplateau gespielt habe.
Ich bin gespannt wie eine Bogensehne, fühle, dass sich jetzt all meine Kräfte versammelt haben, dass mein Körper bereit ist auszudrücken, was ich, was Julia fühlen muss. Fahre mit Leidenschaft fort: »O schwöre nicht beim Mond, dem wandelbaren / Der immerfort in seiner Scheibe wechselt, /Damit nicht wandelbar dein Lieben sei!«
Sie merkt es. Das: »Wobei denn soll ich schwören?«, die Art, wie sich ihre Stimme verändert, zeigt, dass sie ebenfalls Feuer gefangen hat.
Als ich mit der Szene fertig bin, fragt sie schnell: »Willst du den Monolog aus dem dritten Akt machen? Wenn Julia darauf wartet, dass es endlich dunkel wird, damit ihr Geliebter kommen kann?« (Weiß, dass ich jetzt nicht von der Spannung herunterkommen darf.)
Und ob ich will. Meine Julia in dieser Szene ist ein junges Mädchen voller Ungeduld, ganz auf einen Punkt fixiert: Möge doch endlich die Nacht hereinbrechen!
Nervös tigert »Julia« hin und her, reckt sich immer wieder auf die Zehen, um zu beobachten, wie endlich die Sonne untergeht, sie spielt nervös an ihren Fingern, fängt schließlich an, die Sonne ärgerlich »anzufeuern«: »Hinab, du flammenhufiges Gespann, zu Phöbus’ Wohnung!« Mit Trotz schimpft sie auf das Tageslicht, sehnt die Nacht herbei: »Komm, Nacht! Komm, Romeo, du Tag der Nacht! / Denn du wirst ruhen auf Fittichen der Nacht / Wie frischer Schnee auf eines Raben Rücken!«
Ich gebe mir Mühe, die ungewöhnlichen Bilder Shakespeares nicht einfach herzubeten, sondern zu zeigen, dass sie in diesem Moment in Julias verliebtem jungen Kopf entstehen, und wenn mich nicht alles täuscht, quittiert ein leises Lachen von unten meine Bemühungen.
»Bis hierher, danke. Und nun die Abschiedsszene.«
Die Abschiedsszene! Ich dachte nicht, dass sie die auch noch verlangen würde. Die Szene, die ich auf den vereisten Steinen des Plateaus probiert habe, bis es mich in die Tiefe riss. (»Der Schmerz trinkt unser Blut. Leb wohl! Leb wohl!«)
Ich bin inzwischen schon ein bisschen erschöpft. Wenn man auf der Bühne steht, in einer Abendvorstellung, rattert man schließlich seine Partie nicht auf einmal herunter, sondern da gibt es im Verlauf der Handlung Momente, wo andere dran sind, wo man ausruhen kann, sich auf das Neue konzentrieren. Aber das scheint der Frau unten egal zu sein. Sie will mich an meine Grenzen treiben. Gut, das kann sie haben.
Ich blicke auf das Textbuch, das liegt da immer noch an der Erde. »Gibst du mir wieder die Stichworte?«
»Natürlich.« Also auch wieder aus dem Kopf.
Ich rufe mir die Ängste, die Vorahnungen zurück, die ich meiner Julia vor Wochen auf meiner »Bühne« in den Pyrenäen gegeben habe, suche nach
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