Dreihundert Brücken - Roman
Inguschetien. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren sie zum Islam übergetreten und aus den Bergen nach Grosny ins tschetschenische Flachland hinuntergezogen. Im Jahr 1917 schloss Turpal sich den Männern an, die für eine unabhängige Republik Nordkaukasus kämpften, weshalb er 1918 verhaftet und 1923 nach Sibirien verbannt wurde, wo er fünf Jahre blieb. Als er zurückkam, war er herzkrank, und an diesem Leiden starb er dann siebzehn Jahre später in dem Kohlewagen auf dem Weg nach Kasachstan. Arstan, Zainaps Mann, wurde 1918 geboren, sechs Monate nachdem man seinen Vater verhaftet hatte. Er wurde nicht religiös erzogen. Seine Mutter, Tochter einer bürgerlichen Familie aus Grosny, hatte in Deutschland studiert und eine westlich-weltliche Ausbildung erhalten, ihre Brüder hingegen hielten an den sufistischen Traditionen fest. Arstan lernte seinen Vater erst mit zehn Jahren kennen, als Turpal 1928 aus Sibirien zurückkehrte. 1937 wurde Arstan selbst in den Gulag deportiert, weil er sich Gruppen von jungen Leuten angeschlossen hatte, die die Unabhängigkeit planten. Als er 1940 nach Grosny zurückkam, lernte er Zainap kennen. Sie war noch fast ein Kind. Sechzehn Jahre alt. Er war ein großer, kräftiger Mann mit blauen Augen und dunklem Haar. Deshalb nannte man ihn den »Tscherkessen«. Er war eine imposante, kraftvolle Erscheinung, trotz der jahrelangen Zwangsarbeit in Bergwerken und auf dem Feld. Ihre Familie erlaubte ihr nicht, vor dem achtzehnten Geburtstag zu heiraten. Also warteten die beiden geduldig. Sie verlängerten ihre Verlobungszeit um zwei Jahre, heirateten im Krieg, lebten aber nur zwei Jahre zusammen, während denen sie zweimal schwanger wurde und beide Male das Kind verlor. Im Februar 1944 wurden sie deportiert, zusammen mit der übrigen tschetschenischen Bevölkerung, die Stalin des Verrats und der Allianz mit den Naziinvasoren bezichtigte. Als sie endlich in Kasachstan ankam, hatte Zainap ihren Mann seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Bis zum Ende ihres Lebens wusste sie nicht, ob er unterwegs gestorben war, nach Kirgistan weitertransportiert, nach Sibirien deportiert worden war oder einfach hatte fliehen können. Sie kehrte 1959 nach Grosny zurück, ein Jahr nachdem man mit der Repatriierung der Tschetschenen aus der Diaspora begonnen hatte. Sie fürchtete sich vor dem, was sie vorfinden würde. Sie kam mit ihrem einjährigen Sohn zurück. Die Schwangerschaft hatte sie selbst am meisten überrascht. Des Kindes wegen hatte sie die Rückkehr aufgeschoben. Niemand hatte je eine Erklärung von ihr verlangt. Als hielte man ihr zugute, was sie durchgemacht hatte.
Während Zainap die Geschichte erzählt, gibt sie auch ihrem Enkel keine Erklärungen. Und während er im Stillen nachrechnet, begreift er, was sie ihm sagt. Seine Großmutter ist nicht in der Lage, ihm von der Zeit zu erzählen, die sie in Kasachstan verbracht hat, zum größten Teil in einer Kolchose, auch nicht, ihm zu sagen, wer sein wahrer Großvater ist, der Vater seines Vaters, und er unterbricht sie nicht mit Fragen, die sie nicht zu beantworten vermag.
»Ich habe deinen Vater allein großgezogen. Und weil wir allein waren, hat er von klein auf begriffen, dass er für sein Leben verantwortlich war. Er hat Chemie studiert und konnte sich an der Universität von Leningrad spezialisieren, wo er dann deine Mutter kennenlernte. Dass er mit seiner schwangeren Frau nach Grosny zurückwollte, konnte ich nicht verstehen. Er hatte eine sichere Stelle in Leningrad, er brauchte nicht zurückzukommen. Auch hielt ich es nicht für besonders gut, dass sie nicht verheiratet waren. Aber den Grund dafür haben wir, dein Vater und ich, bald erfahren. Deine Mutter war jung. Und die Jugend ist inkonsequent. Ich bitte dich, versuch zu verstehen, was ich dir sage, so wie ich es damals zu verstehen versucht habe, und urteile nicht über sie. Du bist ein Mann. Nicht jede Frau möchte Mutter werden. Erst recht nicht, wenn das Kind zwischen ihr und der Welt steht, aus der sie stammt, und sie daran hindert, wieder die zu sein, die sie vorher war. Ein Jahr lang habe ich in Kasachstan miterlebt, wie Tschetschenen nach Grosny zurückgingen, einer nach dem anderen, aber ich selbst konnte nicht zurück. Ich hatte nicht den Mut, mit einem Kind ohne Vater zurückzugehen. Was hätte ich Arstan sagen sollen, wenn er am Leben gewesen wäre und wir uns wiedergefunden hätten? Ein Kind schenkt Leben und raubt es zugleich. Keine zwei Monate nach deiner Geburt ist
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