Dreihundert Brücken - Roman
danach repatriiert werden sollen. Viele Leute aus dem Lager, die ihre Geschichte nicht näher kennen, führen den Tod der kranken alten Frau auf die drohende Zwangsrepatriierung zurück und empören sich, dass die Behörden sie zwingen wollten, in den Krieg und die Trümmer einer Stadt zurückzukehren, die es nicht mehr gibt. Sie organisieren sogar einen kleinen Protest, der aber schnell niedergeschlagen wird. Dass seine Großmutter verschwunden ist, merkt Ruslan erst mittags, als sie nicht von der Lagerverwaltung zurückkommt, wo sie angeblich Medikamente holen wollte.
Am Vormittag, noch bevor er weiß, dass Zainap ver schwunden ist, wird er von dem Team russischer Dokumentarfilmer interviewt, die mit der Abordnung französischer Ärzte ins Lager gekommen sind. Er soll sich auf einen Hocker vor die Kamera setzen, die auf einem Stativ in einem Zelt der Verwaltung steht. Die Interviewerin befragt ihn nach den Lebensbedingungen im Lager.
»Was hindert Sie daran, nach Grosny zurückzugehen?«
»Nichts. Das wollen wir ja, meine Großmutter und ich, mit dem nächsten Zug.«
Vierundzwanzig Stunden später erhält er die Nachricht, dass die Wärter sie drei Kilometer vom Lager entfernt gefunden haben, an eine Birke gelehnt sitzend, der Körper vollkommen starr, mit glücklichem Gesichtsausdruck.
Ruslan beerdigt sie weit weg von ihrer Heimat, das Allerletzte, was sie sich je gewünscht hätte. Er verfährt genau nach der Tradition. Andere Flüchtlinge helfen ihm. Und nach zweitägigem Zögern entscheidet er sich, die von der Toten auf einem fleckigen Zettel hinterlassenen Anweisungen zu befolgen und sich an Oberst Egorow zu wenden, der nur einmal in der Woche, immer samstags, ins Lager kommt. Zunächst tut der Oberst, als wisse er von nichts, und weicht aus. Da Ruslan aber nicht lockerlässt, geht er schließlich doch darauf ein. Ruslan droht, ihn bei dem Team der Dokumentarfilmer und den französischen Ärzten zu denunzieren, worauf der Oberst ihn taxiert und dann fragt, ob er zu schwerer körperlicher Arbeit bereit sei, er werde hart anpacken müssen bei der Restaurierung von St. Petersburg für die Dreihundertjahrfeier der Stadt.
2 Tschetschenische Kämpfer.
3 Russen.
4 Nach inguschischer Tradition ein Fremder oder ein Angehöriger eines anderen Clans oder Stammes, mit dem man einen Schutz- und Bruderschaftspakt geschlossen hat.
3.
Drei Wochen später,
in St. Petersburg
V or einem Monat haben die Renovierungsarbeiten begonnen, aber Anna hat sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass es im Wohnzimmer dunkel ist, wenn sie mittags die Wohnungstür aufschließt. Es ist noch ein Jahr bis zur Dreihundertjahrfeier, doch an der Hausfassade wird bereits gearbeitet. Zur Feier wird die Farbe schon wieder abblättern. Die Fenster müssen geschlossen bleiben, wenn die Wohnung nicht binnen weniger Stunden eingestaubt sein soll – und letztlich wird sich doch überall Staub angesammelt haben, weil er im Laufe der Zeit unmerklich durch alle Ritzen dringt. Seit man mit der Renovierung begonnen hat, verbringt sie möglichst den größten Teil des Tages außer Haus. Sie kommt erst zurück, wenn die Sonne untergeht. Wenn sie zu Hause ist, muss sie das Licht anmachen, und tagsüber Lampen einzuschalten deprimiert sie. Die Sonnenstrahlen dringen durch die Ritzen der Jalousien, ziehen Linien in die stehende, fast mit den Händen greifbare Luft und offenbaren in sieben parallelen Streifen winzige Staubteilchen, die normalerweise unsichtbar zwischen den Fenstern und dem Sofa schweben. Die Szene versetzt sie in ihre Kindheit, damit verbunden ist der Tod. Anna erinnert sich an das Röcheln des Großvaters, Arzt und Liebhaber der Literatur, in einem hohen Bett in einem Raum mit geschlossenen Fenstern, wegen der Sommerhitze, in der Datscha der Familie an der Strecke nach Wyborg. Keine schöne Erinnerung, wie so viele andere, an die sie möglichst nicht denkt. Die Hausfassade ist mit Gerüsten und blauen Planen verdeckt, um die Fußgänger vor dem Staub zu schützen, was aber nichts hilft. Seit Beginn der Renovierungsarbeiten sind alle außer Maxim, dem älteren Sohn, dazu übergegangen, nicht nur die Schuhe im Flur auszuziehen, sondern auch Jacken und Pullover. An manchen Abenden sieht der Flur ihrer Wohnung wie ein Korb für schmutzige Wäsche aus. Wenn sie nach Hause kommt, hängt sie die Jacken in den Schrank und schüttelt die Pullover im Treppenhaus aus, bevor sie sie zusammenlegt. Doch heute, da sie ausnahmsweise mittags nach Hause
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