Dreihundert Brücken - Roman
Seiner Großmutter hatte er gesagt, er werde bei einem Freund von der Universität übernachten. Sie verbrachten die Nacht in einem abgestellten Waggon, als wäre alles ringsum bedeutungslos, als befänden sie sich nicht im Epizentrum des Krieges – oder vielmehr, als wären sie immun gegen den Krieg oder könnten allein durch ihr Zusammensein eine Feuerpause verfügen. Ruslan verband die Liebe mit Gefahr und Krieg, er kannte es nicht anders. Er verband Sex mit Feuerpause (das Verlangen versetzte die Wirklichkeit in einen Schwebezustand) und Liebe mit drohendem Verlust. Und fortan konnte er nur zwischen Trümmern lieben.
Zu diesem abgestellten Waggon ging er, sobald er erfahren hatte, dass Akif verschwunden war, in der Hoffnung, er habe sich dort versteckt und warte auf ihn. Er weigerte sich, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Und als er dort, in dem leeren, von Kugeln durchlöcherten, in einer verwüsteten Stadt abgestellten Waggon auf dem Boden saß, begriff er, dass er Akif nie wiedersehen würde. Der Schmerz verlieh ihm den Mut, einen ganzen Nachmittag lang auf dem stinkenden Gelände voller verstümmelter Leichen, die sich in der aufgewühlten Erde des Massengrabs am Stadtrand von Grosny stapelten, nach ihm zu suchen. Eine Mutter, die einem Kind, das nicht das ihre war, die Fliegen aus dem Gesicht scheuchte, fragte ihn, nach wem er suche, und weil ihm vor Überraschung keine Lüge oder sonst eine Antwort einfiel, sagte er: »Nach meinem kunak 4 «, eine Bezeichnung, die er nie benutzt und seit dem Tod seines Vaters auch nicht mehr gehört hatte. Kunak , so hatte der Vater ihn genannt anstatt Sohn.
Als er in dem inguschischen Lager aufwacht, steht die Sonne schon am Himmel, der Totengeruch ist nur noch eine diffuse Erinnerung, und die Großmutter will ihm eine Geschichte erzählen. Zainaps Geschichte beginnt auch in einem Zug. Sie und ihr Schwiegervater befinden sich im selben Waggon. Die Sowjets haben Zainap von ihrem Mann getrennt. Ihre Eltern sind nicht im Deportationszug, sie konnten entkommen, weil sie nicht zu Hause waren, und sich dann in den Bergen verstecken, aber nicht lange. Als Zainap fünfzehn Jahre später nach Tschetschenien zurückkommt, findet sie heraus, dass man sie eine Woche später aus nächster Nähe ermordet hat. Von ihrem Mann hört sie nie wieder. Der Schwiegervater, bei der Abfahrt schon ziemlich krank, übersteht die Fahrt nicht und stirbt in ihren Armen, bevor sie die Grenze nach Kasachstan überqueren. Turpals Leiche wird irgendwo auf der anderen Seite der Wolga zurückgelassen, den Namen des Ortes hat sie sich nicht merken wollen.
Als sie Astrachan verließen, ging es dem Schwiegervater schlecht. Er presste die Hand seiner jungen Schwiegertochter, als könnte er sich so länger unter den Lebenden halten. Dicht an dicht gequetscht, in dem Kohlewaggon eingesperrt, wurden sie durchgeschüttelt. Ein paar Frauen hatten noch versucht, die russischen Aufpasser auf dem Bahnsteig auf den alten Mann aufmerksam zu machen, der bei ihnen im Waggon mit dem Tod rang – es sollte lediglich der Erste sein. Sie hämmerten gegen die Holzwände, durch deren Ritzen gerade so viel Licht und Luft hereindrang, dass sie noch atmen und einander erkennen konnten, doch in dem Lärm des Eisengequietsches ging alles unter. Und selbst wenn die russischen Soldaten draußen sie gehört hätten, so hätten sie vermutlich nichts unternommen. Eine alte Frau gab dem Sterbenden den Rest ihres abgekochten Wassers, das sie vor dem Abtransport hatte mitnehmen können. Turpal hielt noch zwei Stunden durch, bis zum nächsten Herzanfall, und der war tödlich. Den Rest dieses Fahrtabschnitts verbrachte Zainap an der Seite ihres toten Schwiegervaters. Als sie schließlich sechs Stunden später an einem Zwischenlager hielten, bat sie einen Soldaten, ihren Mann in einem anderen Waggon zu suchen, ihm mitzuteilen, dass sein Vater gestorben sei, und ihnen zu gestatten, den Toten zu begraben, bevor es weiterging, doch die Russen holten lediglich Turpals Leiche aus dem überfüllten Wagen, legten sie neben anderen auf dem Bahnsteig ab und warfen alle zusammen nach Abfahrt des Zuges in ein gemeinsames Grab. Sie wussten, dass es für einen Tschetschenen nichts Demütigenderes gibt, als seine Toten nicht zu begraben – und sie wollten sich für die angebliche Allianz der Tschetschenen mit den bei Stalingrad besiegten deutschen Invasoren rächen.
Der Clan, dem Turpal angehörte, war mit den Russen verbündet. Sie stammten aus
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