Dreihundert Brücken - Roman
Anna gegangen. Den Gedanken, euch beide zu verlassen, hatte sie schon im Kopf, als sie in den Kaukasus kam. Eines Abends kam Chakhban von der Arbeit nach Hause, und sie war weg. Du warst sehr ruhig, als hättest du begriffen, dass du verlassen worden warst und dass es nichts half zu weinen. Du hast auch nicht geweint, als ich dich aus Chakhbans Armen entgegennahm. Anna war eine lebenslustige Frau. Nicht von ungefähr hatte dein Vater sich in sie verliebt. Er hat es nie verwunden. Ich war dagegen, als er dann sagte, sie sei gestorben. Aber was sollte ich machen? Es ging ihm ja nicht nur darum, die Wahrheit zu verschweigen und dich zu schützen, er musste es sich auch selbst einreden, damit er weiterleben konnte. Verurteile ihn nicht, jetzt, da er sich nicht mehr verteidigen kann. Er hat sie nie vergessen. Ich weiß, was es bedeutet, ein Leben lang auf die Verschwundenen zu warten. Bis zu seinem Tod hatte er ihr Bild in seiner Brieftasche. Und im Grunde glaube ich, obwohl ich sie nur so kurz gekannt habe, dass sie ihn wohl auch nie vergessen hat.«
Als Chakhban 1979 nach Leningrad kam, um dort organische Chemie zu studieren, kannte er niemanden in der Stadt. Anfangs hatte er den Plan, in den Kaukasus zurückzugehen und in der Erdölförderung zu arbeiten. Seine Tage verbrachte er zwischen der Insel Wassiljewski, wo er sich mit zwei ausländischen Stipendiaten, einem Kubaner und einem Mongolen, eine kleine Wohnung teilte, und dem Campus von Petrodvorets. Bis spät in die Nacht hockte er in seinem Zimmer. Schlief über den Büchern ein. Er war ein fleißiger Student, einer der besten der Fakultät. Auch die Zeit, die er täglich im Zug zwischen Universität und Stadt verbrachte, nutzte er zum Lernen. Er dachte an nichts anderes als Vorlesungen und Prüfungen. Bis er, nachdem er schon seit zwei Jahren in der Stadt war und davon träumte, für den Rest seines Lebens dort zu bleiben, im Bus auf der Fahrt den Newski-Prospekt hinauf Anna begegnete. Sie studierte Französisch. Von klein auf hatte sie mit ihrem Großvater, einem gebildeten Arzt alter Schule, Französisch gesprochen. Sie war dazu erzogen, ein Ziel im Leben zu haben. Ihrer Mutter zufolge, der sie ihn nie vorgestellt hatte, wurde Anna der Tag zum Verhängnis, an dem sie Chakhban kennenlernte; er war eine unselige Unterbrechung im Lebensplan einer intelligenten, vielversprechenden jungen Frau. Seit sie ihn im Bus erblickt hatte, dachte sie nicht mehr daran, dass sie eigentlich auf einen russischen Ehemann wartete, der ihr all die Privilegien garantieren konnte, die ihrer Erziehung entsprachen, wie ihre Mutter immer sagte, und lebte fortan in einem Ausnahmezustand. Fünfzehn Monate lang ließ sie sich, ohne etwas zu planen oder zu kalkulieren, allein davon leiten, was ihr Herz sagte. Und so musste es nach der Logik, die ihr von klein auf vermittelt worden war, zwangsläufig schiefgehen. Das Idyll zeigte schon die ersten Abnutzungserscheinungen, als sie feststellte, dass sie schwanger war. Obwohl sie immer weniger überzeugt war, das Richtige zu tun, und die Abstände zwischen ihren Liebesrückfällen immer größer wurden, ließ sie sich von Chakhban überreden, denn er wollte das Kind. In ihrer Inkonsequenz zögerte sie so lange, bis es kein Zurück mehr gab, erst dann vertraute sie sich ihrer Schwester an – die als Einzige der Familie davon erfuhr und sie zu spät zu einer Abtreibung drängte: »Dieses Kind wird dir dein Leben ruinieren.« Anna, die zuvor mit keinem Gedanken in Erwägung gezogen hatte, Leningrad gegen eine andere Stadt einzutauschen, nicht einmal gegen Moskau – weshalb sie auch Chakhban überredet hatte, mit ihr dort einen Hausstand zu gründen –, vollzog eine überraschende Kehrtwendung und bat ihn jetzt, mit ihr nach Grosny zu gehen, wo sie ihr Kind zur Welt bringen und es nach den dortigen Sitten großziehen wollte. Der unerwartete Meinungsumschwung machte zwar einerseits Chakhbans berufliche Pläne zunichte, doch andererseits ließ er einen alten Traum wieder aufleben, den er begraben hatte, als er Anna kennenlernte. Blinder hätte er nicht sein können. Für Anna war er bereit, alle Pläne zu vergessen, die sie gemeinsam geschmiedet hatten, und zurückzulassen, was er inzwischen in der Stadt erreicht hatte, um sich einer größeren Aufgabe zu widmen, die ihm kraft Geburt oblag: in seine Heimat zurückkehren und eine Familie gründen. Ohne die Konsequenzen zu bedenken, getäuscht von der Frau, die ihm einen tschetschenischen Sohn
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