Dreihundert Brücken - Roman
schenken sollte, auch wenn sie nicht verheiratet waren, machte er sich mit ihr auf den Weg nach Grosny.
»Anna ist zwei Monate nach deiner Geburt gegangen. Anfangs war ich empört, doch als ich, notgedrungen wieder zur Mutter geworden, dich dann immer mehr ins Herz schloss, konnte ich es allmählich verstehen. Wenn sie von Anfang an vorgehabt hatte, euch zu verlassen, war es besser, wenn sie so früh wie möglich ging. Nicht alle Mütter lieben ihre Kinder sofort. Und Anna war nach Grosny gekommen, um sich von der Liebe zu befreien. Frauen werden für eine Liebe geboren, die unerträglich ist und die sie ihr Leben lang mit zweitrangigen Lieben auszugleichen versuchen, um nicht den Verstand zu verlieren. Deshalb wollen sie mehr als nur ein Kind haben, die Liebe zu dem einen soll die zum anderen wettmachen. Wenn sie einmal anfangen, können sie nicht mehr aufhören. Merkwürdig, wie schnell sie die Kinder vergessen, die gestorben sind. Nach Chakhbans Tod konnte ich die Mütter besser verstehen, die ihre Kinder bei der Geburt töten. Es ist besser, kein Kind zu haben, als es zu verlieren. Je länger Anna bei dir geblieben wäre, umso schwerer wäre es ihr geworden, dich zu verlassen. Und bleiben konnte sie nicht. Nur wollte Chakhban das nicht sehen. Sie wird auch gelitten haben. Wahrscheinlich leidet sie noch heute. Als dein Vater starb, wollte ich sie benachrichtigen, hatte aber nicht die Kraft. Ich habe mein Leben lang auf die Nachricht von Arstans Tod gewartet, sie aber nie erhalten. Nie habe ich erfahren, was mit ihm geschehen ist. Und es ist viel schlimmer, nichts zu wissen, als zu wissen, dass jemand gestorben ist. Ich mache es nicht mehr lange. Aber du bist nicht allein. Außer mir hast du noch jemanden auf der Welt. Hier ist die Adresse, falls du sie irgendwann aufsuchen willst.«
Sie reicht ihm ein Stück Papier, er nimmt es beklommen entgegen. Sie spricht weiter.
»Vielleicht willst du wissen, wie du nach Petersburg kommen sollst.«
Ruslan sagt nichts. Sie fasst sich ein Herz und fährt fort.
»Mit demselben Geld, das es uns ermöglicht hat, hierherzukommen. Vor fünf Monaten, gleich nachdem ich dich vom Krankenhaus nach Hause gebracht habe, klopfte es am späten Nachmittag, während du schliefst, an der Tür. Ich dachte, nun sei alles verloren, die Russen wären wieder da, um dich endgültig abzuholen. Ich wollte nicht aufmachen, aber hinter der Tür nannte eine Stimme, die ich kannte, meinen Namen. Es war die Stimme einer Frau. Eine Stimme, die ich seit dem Exil in Kasachstan nicht mehr gehört hatte. Wir hatten uns seitdem nie mehr gesehen. Für mich war es ein Gespenst der Vergangenheit. Sie bat mich, sie hereinzulassen. Sie hatte gehört, was mit dir geschehen war, und deshalb war sie gekommen. Sie musste mit mir sprechen. Ich ließ sie herein. Viele Jahre lang dürfte ich die Person gewesen sein, die sie am wenigsten sehen wollte. Sie sagte, sie hege keinen Groll. Ihr Mann war vor einem Monat gestorben, Herzversagen. Doch diese Nachricht, die mich früher tief erschüttert hätte, löste in mir seltsamerweise nichts aus. Überhaupt nichts. Ihre Söhne waren im Kampf in den Bergen gefallen. Das wusste ich schon. Dass ich aber von seinem Tod erst mit einem Monat Verspätung erfuhr, war unglaublich. Sie entschuldigte sich dafür, dass ihr Mann sich nicht gemeldet hatte, als Chakhban starb. Alle rings um uns starben. Sie sagte, sie sei deinetwegen gekommen, um eine Schuld einzulösen. Und überreichte mir das Geld. Dieses Geld. Sie hatte erfahren, dass man dich verhaftet hatte, und brachte mir das Geld, um dich aus Grosny wegzubringen. ›Bring ihn weit weg von hier‹, sagte sie. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Sie hatte auch keinen Ort, wohin sie hätte gehen können. Auch nichts, wofür sie das Geld hätte benutzen können. Sie sagte, das sei das Wenigste, was sie tun könne, wenn schon ihr Mann es nie getan habe. Dann stand sie auf und ging. Dieses Geld gehört dir, es ist dein Erbe. Es ist das Geld, das der Vater deines Vaters im Laufe seines Lebens gespart hat und wofür seine Witwe nach dem Tod ihrer Söhne keine Verwendung mehr hatte.«
Wie erwartet, weigert Ruslan sich, sie allein nach Grosny zurückkehren zu lassen. Er sagt, ganz gleich, wohin sie geht, er wird mitgehen. Zainap hört ihm schweigend zu. Sie hat schon alles geplant. Zwei Wochen später wird man ihre Leiche drei Kilometer vom Lager entfernt auffinden. Sie und ihr Enkel stehen auf der Liste der Flüchtlinge, die in der Woche
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