Dreihundert Brücken - Roman
und von ihnen geschützt.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es eben. Dein Großvater hat hier gewohnt. Sieh sie dir an. Wie Festungen.« Dimitri zeigt auf die Gebäude linker Hand der Straße. »Sie stehen weit auseinander. Damit ein Gebäude, wenn es bombardiert wird und einstürzt, die anderen ringsum nicht mitreißt.«
»War dein Vater im Krieg?«
»Er war damals jünger als du. Er hat die Belagerung überlebt, weil er Gras und Schuhsohlen gegessen hat. Die Menschen starben auf der Straße.«
»Vor Hunger?«
»Sie fielen tot um.«
»Die Geschichte hast du schon erzählt«, sagt Maxim gereizt hinten im Auto, wo er neben seinem Bruder sitzt.
Anna, mit Sonnenbrille, sitzt regungslos vorn neben ihrem Mann. Die ganze Fahrt über, von ihrem Haus bis zum Flughafen, sagt sie kein einziges Wort.
»Wie weit sind die Deutschen gekommen?«, fragt Roman weiter.
»Ich glaube, die Front verlief ungefähr hier«, antwortet Dimitri.
»Man konnte nicht aus der Stadt raus?«
»Nur im Winter, wenn der See zufror, gelang es ihnen manchmal, dringend benötigte Dinge, Lebensmittel und Medikamente zu beschaffen. Trotzdem war alles furchtbar schwierig.«
»Und die Menschen mussten über zwei Jahre lang Gras und Schuhsohlen essen?«
»Wozu paukst du eigentlich so viel? Man könnte meinen, du hättest noch nie eine Schule besucht«, wirft Maxim ein, den Blick immer noch nach draußen gerichtet.
»Sitzengeblieben bin jedenfalls nicht ich.«
Maxim dreht sich um und versetzt seinem Bruder einen Schlag, doch bevor Roman sich revanchieren kann, streckt Dimitri den rechten Arm nach hinten und hält ihn fest.
»Schluss jetzt.«
»Warum darf er, der nicht zur Schule geht und auch sonst nichts macht, nach New York und ich nicht?«
»Genau deshalb, weil du Prüfungen vor dir hast.«
»Warum fährst du nicht mit ihnen mit?«
»Das habe ich doch schon gesagt, Roman. Ich darf erst in fünf Jahren ins Ausland reisen.«
»Aber deine jetzige Arbeit hat doch nichts mit der nationalen Sicherheit zu tun.«
»Bis vor kurzem hatte meine Arbeit aber damit zu tun. Ich muss fünf Jahre warten, bevor ich reisen kann.«
»Dann reise ich in fünf Jahren mit dir, abgemacht? Wenn Maxim jetzt mit ihr reisen darf, dann steht mir das auch zu, oder?«
Keiner antwortet. Dimitri setzt sie am Eingang zum Terminal ab, bevor er den Wagen parkt. Roman will mit ihm zum Parkhaus fahren.
»Nein, nein. Hilf du lieber deiner Mutter und deinem Bruder mit dem Gepäck.«
Roman gehorcht widerwillig. Während Dimitri, nun allein im Auto, nach einem Parkplatz sucht, denkt er über seine Familie nach. Er hat von Anfang an um diese Frau und um die Ehe gekämpft. Seit er sie zum ersten Mal gesehen hat, war er unsterblich in sie verliebt. Nur Gott weiß, was notwendig war, um die Familie über all die Jahre zusammenzuhalten. Er hat Grenzen überschritten, die er im Prinzip für unüberwindbar gehalten hatte. Er bereut nichts. Der Zweck heiligt die Mittel. In ein paar Monaten, wenn sich der Staub gelegt hat, wenn alles vergessen ist, kann Maxim nach St. Petersburg zurückkommen, ohne zu riskieren, dass man ihm den Prozess macht, und sie werden wieder in Frieden leben können wie damals, als die Jungen klein waren. Nun, da sie dasselbe Geheimnis hüten, fühlt er sich Maxim näher. Sie haben gehandelt, um die Familie zu retten. Und diese Komplizenschaft ist die Garantie dafür, dass Maxim schweigt; außerdem besänftigt sie sein Schuldgefühl, den Sohn benutzt zu haben. Wenn es von ihnen abhängt, wird Anna nie etwas erfahren. Sie werden alles tun, um ihr diesen Kummer zu ersparen. Das ist Liebe. Doch im Grunde kann er nicht mit Bestimmtheit sagen, dass sie nichts weiß. Ihr Schweigen ist in gewisser Weise eine Form von Eingeständnis.
Dimitri gesellt sich zu seiner Frau und den Söhnen in der Schlange vor der Passkontrolle. Als sie sich verabschieden, küsst er seine Frau auf die Stirn und Maxim auf die Wange.
»Grüß Vera. Sag ihr, in fünf Jahren vielleicht …«, sagt er noch zu seiner Frau, als sie sich zum letzten Mal umdreht und diskret winkt, bevor sie durch die Kontrolle geht. Er sieht in dieser kleinen Geste, die unter anderen Umständen einfach, ja fast banal wäre, eine Andeutung von Dankbarkeit und fühlt sich entschädigt.
Roman reißt den Vater aus seinen Gedanken.
»Eigentlich müsste ich wenigstens irgendetwas zum Ausgleich bekommen, findest du nicht? Wo ich schon nicht mit ihnen nach New York fliegen darf. Wenn es denn Gerechtigkeit auf
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