Dreihundert Brücken - Roman
gesehen hat. Einen Moment schweigen sie sich an.
»Findest du nicht, dass du uns dreien eine Erklärung schuldig bist?«, sagt er.
Sie wendet ihm den Rücken zu, stützt sich an der Spüle ab.
»Wenn man jung ist, irrt man sich, man macht Fehler. Man hat das ganze Leben vor sich. Warum sollte man nicht das Recht auf eine zweite Chance haben?« Sie verheddert sich in ihren eigenen Worten. Es ist, als überlegte sie laut. Sie weiß nicht, ob sie über ihren Sohn oder über sich selbst spricht.
»Weiß Papa, dass du einen Geliebten hast?«, fragt Maxim.
Sie dreht sich mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen zu ihm um.
»Er ist nicht mein Geliebter. Er ist dein Bruder.«
Und zum ersten Mal, seit er wieder zu Hause ist, verschlägt es Maxim für einen kurzen Moment die Sprache. Der Satz hat ihn aus der Fassung gebracht. Er hat den Brief in der vergangenen Woche mehrmals gelesen, aber sein Hass hat ihn daran gehindert, ihn zu verstehen. Er hat aus allem das Gegenteil herausgelesen. Der Brief enthielt eine Enthüllung, die ihm nicht in den Kopf wollte, eine Realität, die er nicht begreifen konnte. Und auch jetzt hätte er alles getan, um sie auszulöschen. Vielleicht hat er sie deshalb nicht wahrgenommen. Ein Bruder aus dem Kaukasus war schlimmer als sterben, schlimmer, als blind oder schwarzhäutig auf die Welt zu kommen. Sie weint, um nichts hören zu müssen. Da dreht Roman den Schlüssel in der Wohnungstür, und Maxim stürzt aus der Küche und verzieht sich in sein Zimmer.
Roman hat auf der Treppe seinen Bruder schreien und mit der Mutter streiten gehört. Kaum hat er die Tür geschlossen und im Flur die Schuhe ausgezogen, klingelt das Telefon, und er beeilt sich, den Anruf entgegenzunehmen. Es ist Dimitri, er sagt, er komme nicht zum Abendessen. Er versinke in Arbeit. Vielleicht müsse er die Nacht im Büro verbringen. Er lügt. In Wirklichkeit will er gerade gehen, hat schon den Aktenkoffer in der Hand. Er verabschiedet sich von seinem Sohn, legt den Hörer auf und verlässt das Büro. Eine halbe Stunde braucht er in dem höllischen Verkehr für die Entfernung von etwas mehr als einem Kilometer zwischen dem Büro am Liteini-Prospekt und seiner Wohnung. Er wäre besser zu Fuß gegangen. Nachdem er das Auto in der Garage in einer Nebenstraße abgestellt hat, bezieht er seinen Posten auf dem Bürgersteig gegenüber des Art-déco-Hauses vom Anfang des vorigen Jahrhunderts und wartet darauf, dass sein Sohn aus dem großen Torbogen tritt, der in den Innenhof führt. Als Maxim um halb elf Uhr abends das Haus verlässt, wartet der Vater schon seit über einer Stunde. Nun folgt er ihm. Wenn es eine Veränderung in Dimitris Verhalten gibt, seit er von seinen früheren Aufgaben entbunden wurde, so betrifft dies vor allem Maxim. Nach seiner Versetzung hat er den eigenen Sohn zum Gegenstand einer Tätigkeit gemacht, die er seit Jahren ausübt und die ihn nun, nachdem sie keinerlei professionellen Zweck mehr erfüllt, psychologisch in Geiselhaft hält. Da er beruflich keinen Grund mehr hat, anderer Leute Leben zu durchleuchten, beschattet er nun seinen älteren Sohn. Und wenn er auch anfangs noch so fachkundig vorging, wie er es gelernt hat, gibt er sich nun, je unvernünftiger und besessener er wird, immer weniger Mühe, seine Spuren zu verwischen.
Wenn Maxim kein Idiot ist (doch das zu entscheiden ist schwierig), dann muss er inzwischen, und sei es nur unbewusst, begriffen haben, dass er einen Komplizen im Haus hat. Denn kein anderer als sein Vater hat dafür gesorgt, dass er erfährt, auf welcher Baustelle der Kaukasier arbeitet. So dumm ist Maxim dann doch nicht, dass er glaubt, die Mutter ließe eine solche Information versehentlich für ihn zugänglich liegen. Und er hätte sich auch nicht den Schwindel ausdenken und Roman als Boten der Mutter losschicken können und wäre jetzt nicht auf dem Weg zum Markt Apraxin Dvor.
Dimitri hat in letzter Zeit die E-Mails zwischen Maxim und dessen Freunden abgefangen. Er weiß, was sie für diesen Abend ausgemacht haben. Und deshalb wundert er sich nicht, als der Sohn in eine Gasse unter Arkaden einbiegt und den Markt betritt, einen Ort, wo tagsüber kleine Straftaten begangen werden und wo sich spätabends Neunzehnjährige möglichst nicht allein aufhalten sollten. Die Stände, in denen Krimskrams aller Art verkauft wird, sind geschlossen. Diffuses gelbes Licht fällt auf die nicht überdachten Gänge zwischen den Buden. Um diese Stunde befindet sich niemand mehr auf dem
Weitere Kostenlose Bücher