Dreimal Liebe
jemanden ansprechen, der größtenteils keinerlei Mimik zeigte, sondern eher eine Art reglose Maske trug, sodass man sich nicht sicher sein konnte, ob man ihn überhaupt ansprechen durfte oder lieber nicht?
Anna konnte dazu auch niemanden befragen, weil Tobias ein absoluter Einzelgänger war. Anfangs hatten ihn die Leute, vor allem wegen seiner Blindheit, mit Fragen bombardiert, was Tobias, so machte es für Anna den Eindruck, ziemlich unangenehm war. Doch nach und nach war das Interesse an seiner Person abgeflaut und er war nun immer, wenn man ihn sah, allein. Selbst in der Kantine saß er abgegrenzt von allen anderen an einem Tisch. Ob Tobias das von sich aus so wollte oder ob er einfach keinen Anschluss gefunden hatte, wusste sie nicht. Anna selbst besaß keinen großen Freundeskreis. Um genau zu sein, würde sie eigentlich nur Nora und Jasmin als richtige Freundinnen bezeichnen. Aber wie musste es sein, wenn man niemanden hatte?
Anna tat der Gedanke weh und sie klemmte den Bleistift ein bisschen fester zwischen die Lippen. Sie wünschte sich so sehr, mit diesem Jungen in Kontakt zu treten. Einfach nur mal mit ihm reden, auch wenn es nur ein Gespräch über das Wetter wäre. Dieser Wunsch beschäftigte sie von morgens bis abends. Doch sie wusste einfach nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte. Es war nicht nur ihre Schüchternheit, die ihr im Weg stand, sondern auch die Tatsache, dass sie keine Ahnung hatte, was sie ihm erzählen sollte. Jedes Thema, das ihr einfiel, wirkte genau wie das, was es in Wirklichkeit war: Ein plumper Vorwand, um mit ihm ins Gespräch zu kommen.
»Fräulein Bachmann?«
Anna zuckte zusammen, als sie von der leicht verärgert klingenden Stimme des Lehrers wieder in die Realität zurückgeholt wurde. Sie wandte den Blick von Tobias ab und richtete ihn erschrocken auf Herrn Halbeck, der vor der Tafel stand und tadelnd eine von seinen dicken Augenbrauen hob.
»Ich weiß, Jakob Dürling ist ein äußerst attraktiver junger Mann, aber hätten Sie bitte die Güte, ihre Aufmerksamkeit dennoch für die letzten fünf Minuten auf meinen Unterricht zu richten?«
Annas Wangen nahmen einen leichten Roséton an, während sie blamiert ihren Stuhl ein bisschen tiefer nach unten rutschte und in der Klasse leichtes Gekicher aufkam.
»Oh … Entschuldigung«, sagte sie mit heiserer Stimme. Ausgerechnet Jakob Dürling, dachte sie sich. Der wäre mit Sicherheit der Letzte gewesen, den sie anstarren würde.
Jakob Dürling hatte, obwohl er seit zweieinhalb Monaten eine Beziehung mit Claudia Burg führte, eine leichte Schwäche für Anna Bachmann, weswegen ihm die Idee, dass er heimlich von ihr beobachtet wurde, ein selbstzufriedenes Grinsen entlockte. Der Kopf seines blinden Sitznachbarn sackte dagegen kaum merklich nach unten, ohne dass irgendjemand davon Notiz genommen hätte.
Die Klasse beruhigte sich wieder und Herr Halbeck fuhr mit seinem Lehrplan fort. Anna vermied es, in die amüsierten Gesichter ihrer Mitschüler zu sehen und heftete ihren beschämten Blick die letzten Minuten tunnelartig an die Tafel, bis endlich das schrille Geräusch der Schulglocke zu hören war und sie erlöste. Weil sie keine Lust hatte, von Jakob persönlich darauf angesprochen zu werden, schlüpfte sie eilig in ihre Jacke, hängte sich ihren Rucksack um und machte sich schnurstracks durch die überfüllten Schulgänge auf den Weg zu den Parkplätzen. Doch kaum, nachdem sie diese erreicht hatte und ihr die kalte Novemberluft ins Gesicht blies, fasste sie sich an den Hals und bemerkte, dass sie ihren Schal vergessen hatte.
Tobias saß auf seinem Stuhl und wartete, bis auch der letzte Schüler aus dem Klassenzimmer verschwunden und Stille eingekehrt war. Es war sein tagtägliches Ritual, da er weder von den Leuten überrannt werden noch den Verkehr aufhalten wollte. Und gerade an Freitagen, wie es heute einer war, hielt er den Abstand lieber zu groß als zu klein. Erst nach und nach packte er seine Sachen zusammen, hing sich seine Umhängetasche um die Schulter, klappte seinen Blindenstock auf und erhob sich von seinem Platz. Er musste sich um neunzig Grad drehen, dann genau sechs Schritte geradeaus laufen, ehe er sich wieder nach links drehen und weitere fünf Schritte gehen musste, bevor er die Tür erreichte. Das beherrschte er aus dem Effeff.
Wenn Tobias an einen neuen Ort kam, zählte er die Distanz seiner Wege in Schritten, um sich besser orientieren zu können. Mittlerweile hatte er ein räumliches Gefühl für
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