Dreimond - Das verlorene Rudel
einen Fuß vor den anderen. Bei jedem Schritt musste sie sich zum Weitergehen zwingen, statt ihrer grenzenlosen Müdigkeit nachzugeben , und sich erschöpft ins spärlich gelbliche Gras hoch oben auf dem Berghang fallen zu lassen.
Viele Stunden waren Fiona, Lex und Carras nun schon unterwegs. Längst hatten sie den Johannisforst hinter sich gelassen. Mit jedem Schritt schienen die Felsformationen, die die Landschaft rund ums Forsthaus prägten, höher und höher aus dem Erdboden zu ragen. Buckelige Steinköpfe wichen himmelhohen Felshängen. Hügel wuchsen zu gewaltigen Bergen heran. Und je stolzer und weiter sich das Gestein gen Himmel reckte, desto zaghafter und rarer zeigten sich Buschwerk, Laub- und Nadelbäume, bis schließlich die einzigen Gewächse weit und breit jene borstigen Grasbüschel waren, durch die sie sich nun kläglich keuchend den steilen Hang hinaufquälte.
Lex und Carras hatten den Gipfel natürlich längst erreicht. Immer öfter mussten die beiden auf sie warten. Fiona, die stur zu Boden starrte, als hätte sie noch nie in ihrem Leben etwas Interessanteres als trockenes Gras gesehen, wusste genau, wen sie zu Gesicht bekäme, würde sie den Blick zur Bergkuppe richten. Lex, der mit vorwurfsvoll verschränkten Armen und einer abfälligen Grimasse zu ihr hinunterstarrte, bloß um zur Schau zu stellen, dass er ja von Anfang an gewusst hatte, dass die Reise zu viel für sie wäre.
Selbst Carras, der zunächst noch aufmunternde Worte für sie gefunden hatte, hatte es offensichtlich satt, ständig auf sie zu warten. Aus den Augenwinkeln sah Fiona ihn ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden tippen.
Euch werd ich’s zeigen! Sie legte energisch einen Zahn zu, obgleich ihre Füße in den wanderuntauglichen Stoffschühchen höllisch schmerzten.
Noch drei Schritte, noch zwei, noch einen … Endlich hatte sie den heiß ersehnten Gipfel erreicht!
Erschöpft stützte sie ihre Hände auf die Knie und rang nach Luft. Sie richtete sich keuchend auf, um Lex und Carras triumphierend zuzulächeln. Aber die hatten ihr schon wieder den Rücken zugedreht und liefen weiter. Enttäuscht starrte sie ihnen nach. Dann folgte sie ihnen, aller Erschöpfung zum Trotz, um nicht schon wieder zurückzubleiben.
Hier auf der Kuppe zu laufen, war im Gegensatz zum Anstieg kinderleicht, versuchte sie sich Mut zu machen. Doch dadurch taten ihre Füße nicht weniger weh. Obwohl sie immer ein Stück aufholen konnte, wenn Carras, der die Gruppe anführte, stehen blieb, und mit seiner feinen Nase nach Serafins Fährte suchte, waren ihr die Wölfe nach kürzester Zeit wieder um Längen voraus. Es war hoffnungslos.
Bald wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihre Begleiter um eine kleine, klitzekleine Pause zu bitten. Doch sobald sich Lex vorwurfsvoll zu ihr umdrehte, weil sie mal wieder viel zu weit zurückgeblieben war, dachte sie, dass sie lieber zusammenbrechen würde, als von ihm Hilfe zu erwarten.
So ging die Reise unerbittlich und ohne Unterbrechung weiter und weiter.
Der Tag verstrich. Während Serafins Spur die drei Reisenden einen Gebirgspfad hinunter und bald darauf wieder die nächste Anhöhe hinaufführte, ging die Sonne heimlich und glanzlos hinter verhangenen Wolkenfeldern unter. Als allmählich die Nacht hereinbrach, fragte sich Fiona immer verzweifelter, ob Wolfsmenschen niemals müde wurden.
Da fielen ihr die hell erleuchteten Fenster eines kleinen Dorfes weit unten, auf – und ihr Herz schnürte sich zusammen. Sie musste an ihr Forsthaus denken, an die gute Nanna, die mürrische Desiree – und an den Kaufmann, ihren Vater, der – wer wusste das schon – vielleicht gerade heute Nacht heimkäme, nur, um ein leeres Forsthaus vorzufinden …
Rumms! Sie hatte nicht auf ihre Füße geachtet, war prompt über einen großen Stein gestolpert und auf ihr rechtes Knie gestürzt. Schreck, Erschöpfung und Heimweh taten ihr Übriges. Wütend auf sich, wischte sie die unwillkommenen Tränen von ihren Wangen. Sie wollte aufstehen, gleich, sofort, aber für einen Moment ging es nicht. Für eine kleine Weile musste sie einfach sitzen bleiben, ins Leere starren und sich selbst leidtun.
Als sie aufblickte, erschrak sie.
Von Lex und Carras fehlte auf dem weit ausgestreckten Bergpfad jede Spur. Keine Schritte waren in der Stille zu hören, kein Atem außer ihrem eigenen.
Ihr Herz raste, als sie sich zitternd zwang, aufzustehen.
Was sollte aus ihr werden, wenn sie nicht auf sie warteten? Wie sollte sie je nach Hause
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