Dreimond - Das verlorene Rudel
Gefangenen werfen können.
Doch was versprach er sich eigentlich davon? Was zum Teufel dachte er sich dabei?
Er müsste ihn hassen, diesen jämmerlichen Verräter, der sein eigenes Rudel im Stich gelassen hatte, damals, vor zehn Jahren.
Schattenklaue hatte seinen eigenen Hauptmann getötet; Rotpelz, den damaligen Anführer der Dritten Kohorte und Bluters älterer Bruder. Er, Blitzschweif, Alkarnssohn, müsste ihn verachten oder zumindest meiden! Jeder Gedanke an einen solchen Verräter war einer zu viel! Und doch, da war noch etwas anderes. Blitzschweif konnte sich ja selbst nicht erklären, woher dieses Gefühl kam. Dieses Gefühl, das ihn – so sehr er sich auch dagegen sträubte – zu dem Fremden hinzog.
Bewunderung.
Diese Gelassenheit, die Schattenklaue dort unten an den Tag gelegt hat, obwohl er doch seinem unweigerlichen Tod ins Auge sah. Diese Stärke, mit der er am Weiler innerhalb von Sekunden seine Fesseln gesprengt hatte, und doch nicht geflohen war.
Er hätte mich töten können …
Mit einem Mal spürte Blitzschweif, dass er beobachtet wurde. Und er wusste auch, von wem. Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und wandte sich um. Im Türrahmen des Turms, vom Regen unberührt, stand Alkarn.
Seit seiner Rückkehr zur Rotburg war Blitzschweif dem Vater ausgewichen. Und jetzt hatte dieser ihn ausgerechnet dabei erwischt, wie er in Schattenklaues Kerker spähte! Blitzschweif biss sich auf die Lippen.
Mit einem Wink gab Alkarn ihm zu verstehen, dass er zu ihm kommen solle.
Um einen möglichst aufrechten und eines Herrschersohns würdigen Gang bemüht, schritt Blitzschweif über den Burghof. Er widerstand der Versuchung, sich, im Trockenen angekommen, erst einmal kräftig zu schütteln, und verneigte sich vor seinem Vater.
»Sohn«, sagte Alkarn langsam und ehrfurchtsgebietend. »Warum hast du dich noch nicht bei mir gemeldet?«
Blitzschweif richtete sich auf und tat sein Bestes, dem durchdringenden Blick seines Vaters standzuhalten. »Stattdessen muss ich hören, dass du seit Schattenklaues Ankunft um den Keller herumschleichst!« Blitzschweif ballte die Fäuste. Kaltschnauze und sein verdammter Aussichtsposten …!
»Vater, ich wollte nur sichergehen, dass der Gefangene … Ich habe nicht durch dich, sondern durch Fangzahn erfahren müssen, was du dir geleistet hast.«
»Ich bin der Kohorte nachgeschlichen, weil ich auch etwas fürs Rudel tun wollte!«, erklärte Blitzschweif so fest er konnte. »Ich wollte zeigen, was ich …«
»Darum geht es nicht.« Die buschigen Augenbrauen des mächtigen Wolfsmanns zogen sich zusammen. »Es geht darum, dass du der Aufgabe, die dir anvertraut wurde, nicht gewachsen warst! Du solltest ein Auge auf Schattenklaue haben und merkst nicht einmal, wie er sich losmacht, um deine Mutter anzugreifen!«
»Aber das …«
»Blitzschweif, ich bin enttäuscht von dir! Nicht nur als Anführer der Schwarzen Sichel , sondern auch als dein Vater!«
Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, drehte Alkarn sich um und verschwand im Turm.
Blitzschweif blieb zurück wie ein getretener Hund.
*
Es hatte endlich aufgehört zu regnen, doch noch immer bedeckten drohend dunkle Wolkenriesen den Himmel, als Fiona und die Wölfe langsam auf den Weiler zugingen, der schon aus der Ferne ein Bild der Zerstörung bot.
»Du musst dir das nicht ansehen, du kannst auch hier auf uns warten«, schlug Lex ihr vor.
»Wie oft denn noch? Ich bin nicht aus Zucker!«, entgegnete sie, obgleich ihr die Angst im Nacken saß.
»Wie du meinst«, sagte Lex angespannt.
Fiona musste nicht erst Carras’ gequälten Gesichtsausdruck sehen, um zu begreifen, dass die Wolfsmenschen vermutlich weitaus mehr als sie von dem wahrnahmen, was dort im Dorf geschehen war. Wer weiß, was für abscheuliche Geschichten ihnen die Gerüche zutrugen.
Je näher sie dem Weiler kamen, desto mehr konnte sie es erahnen. Die Häuser waren regelrecht auseinandergerissen worden, Trümmer bedeckten den Boden. Wo sie auch hinsah, lagen zerborstene aufeinandergestürzte Holzbalken, die Karren und Werkzeuge unter sich begraben hatten. Ein Stück entfernt lag eine zerschlagene Porzellanpuppe. Der Schlamm verschlang langsam die Splitter des entstellten Spielzeugs. Menschen waren keine zu sehen. Nicht einmal Blut – der Regen musste es fortgewaschen haben.
Die Leere schnürte Fiona förmlich die Kehle zu. Es war, als hätten sich die Menschen, die hier gelebt und gearbeitet haben, einfach in Luft
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