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Dreimond - Das verlorene Rudel

Dreimond - Das verlorene Rudel

Titel: Dreimond - Das verlorene Rudel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola L. Gabriel
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ältere Schwester von Kaltschnauze, presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, ihr unerbittlicher Blick war starr nach vorn gerichtet. In den tiefen Furchen, die sich ihr im Laufe der Zeit von der Nase hin zu den Mundwinkeln eingegraben hatten, waren Kreideschlieren zu erkennen, was ihre wettergegerbten Züge noch härter erscheinen ließ.
    Alle Mitglieder des Hohen Gerichts stellten in dieser Nacht weiß getünchte Gesichter zur Schau, das gehörte zum Ritual. Die Kreidesteine, die sie dafür nutzten, stammten aus der Hügelgrotte, Stammsitz des Hohen Richters, und kamen nur zu ganz besonderen Anlässen zum Einsatz. Sie symbolisierten die Klarheit der Gedanken und Reinheit der Gefühle, Voraussetzungen, die für ein gerechtes Urteil unabdingbar waren.
    Auch Bluter, zu Eisenfells Rechten, schien außergewöhnlich nervös. Zwar lächelte er und gab sich den betonten Anschein von Gelassenheit, aber das war nicht echt. Eisenfell kannte auch diesen Werwolf lange genug, um das unkontrollierte Zucken, das hin und wieder über seine ihm zugewandte Gesichtshälfte huschte, richtig einschätzen zu können. Kein Wunder, war es doch auch der Mord an Bluters Bruder, den man Schattenklaue vorwarf.
    Heute, nach vielen Jahren, war nun der Moment gekommen, auf den sie alle gewartet hatten. Heute, in der Morgendämmerung, würden sie diesen üblen Nestbeschmutzer zur Rechenschaft ziehen. Viele waren ausgesandt worden, ihn aufzuspüren. Bluter und Neuschnee hatten ihn zurückgebracht. Der Tag der Abrechnung war da. Und selbst diejenigen, die nicht nur nach rascher Vergeltung gierten, sondern endlich aus dem Mund von Schattenklaue wissen wollten, wie das alles hatte geschehen können, hatte bald eine Unruhe ergriffen, die sich bis in die äußersten Nervenfasern auszubreiten schien.
    Die ganze Rotburg war erfüllt von einer Spannung, die man fast mit Händen greifen konnte.
     
    *
     
    Serafin schritt zur Mitte des Burghofs. Er verneigte sich vor Alkarn, der sehr aufrecht gegenüber der im Boden eingelassenen Mondsichel auf einem klobigen Stuhl mit hoher Lehne saß. Alle sechs Mitglieder des Hohen Gerichts waren in purpurrot eingefärbten schweren Wolfsfellen erschienen, mit Kapuzen, die Haar und Stirn bedeckten, und ihre Träger mit einer feierlichen und zugleich unheimlichen Aura umgaben. Auf der Holzbank zwei Reihen hinter Alkarn erkannte er die Kohortenführer Eisenfell, Horniss und Bluter. Davor hatte Neuschnee ihren Platz eingenommen, und neben ihr saß … Serafin stockte. War das Kaltschnauze  …?
    Ginster und Graufuß, die Wächter, drückten ihn zu Boden. Obwohl er nur einmal vor sehr langer Zeit eine Gerichtsverhandlung erlebt hatte, erinnerte er sich sofort, was von ihm erwartet wurde. Sein Blick fiel auf das steinerne Mosaik zu seinen Füßen. Er zögerte nicht und küsste das Kainsmal. Es war ein Zeichen der Solidarität, dazu musste ihn niemand zwingen, denn noch immer fühlte er sich diesem Rudel zugehörig, auch jetzt noch, nach allem, was geschehen war. Als seine Lippen das glänzende Auge des Halbmondes berührten, durchströmte ihn, plötzlich und gegen jeden Verstand, eine gewaltige Woge der Euphorie.
    »Heuchler!«, peitschte eine Stimme durch die Nacht; Bluter.
    Als sich Serafin ein wenig benommen aufrichtete, war der rote Kohortenführer aufgesprungen und deutete hasserfüllt auf ihn.
    Fangzahn zischte »Verräter!« und Breitborke reckte fluchend die Faust. Ein allgemeines bedrohliches Murren folgte und schwoll furchterregend an.
    Plötzlich teilte sich der Kreis. Es tat sich eine Gasse auf, durch die Dornstern, die Hohe Richterin, schritt. In einer beschwichtigenden Geste hob sie beide Arme und strahlte dabei so viel natürliche Autorität aus, dass allmählich Ruhe eintrat.
    »Ich danke euch«, sagte sie in die angespannte Stille. »Ich möchte euch alle daran erinnern, dass dies ein traditionsreiches Ritual ist, das festen Regeln unterworfen ist, die wir zu achten haben!«, setzte sie mit einem Seitenblick auf Bluter hinzu. Erhobenen Hauptes blickte sie in die Runde. »Seid versichert, dass ich keinerlei Aufruhr dulden werde!«
    Kaltschnauze räusperte sich und ergriff mit einer angedeuteten Verbeugung in Richtung Dornstern leise und doch für jedermann verständlich das Wort.
    »Ich gebe zu bedenken, hat dieser … dieses …« Er hüstelte »… dieses ehemalige Rudelmitglied wirklich noch das Recht, das Heilige Zeichen zu küssen?« Beifall heischend blickte er in die Runde, aus der wieder

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