Dreimond - Das verlorene Rudel
Mal.
Dornstern bedeutete ihr, zu schweigen. Mit ihren kleinen, tiefschwarzen Augen, die von langen Wimpern umgrenzt waren, musterten sie ihn wachsam und vorsichtig.
Der Blick einer Jägerin , dachte Serafin, und nicht der einer Frau, die eingesperrt in Burgmauern Weissagungen und Orakelsprüche verkünden sollte …
Bis auf einen einzelnen dünnen Zopf, der, mit zahlreichen Perlen besetzt, über ihre Wange bis zu dem schmalen Kinn reichte, war Dornsterns schwarzes Haar kurz geschoren. Früher hatte sie es in langen Locken getragen.
Serafin, Alkarn und sie waren unzählige Male Seite an Seite auf die Jagd gegangen. Immerzu hatte sie sich am geschicktesten von ihnen angestellt. Damals war sie wie eine Schwester für Serafin gewesen.
»Warum …? Seit wann bist du die Richterin …?«
»Der Hohe Richter ist seit zehn Jahren tot.«
Bedrückt blickte Serafin zu Boden. Sie sprach von ihrem Vater.
»Zuvor hat er Dornstern noch zu seiner rechtmäßigen Nachfolgerin erklärt. Du bist ihr zu Respekt verpflichtet«, fühlte sich der Wächter scheinbar gemüßigt anzumerken. Maron rückte näher an den Mann heran, so als wolle sie ihre Zustimmung bekunden.
Dornstern aber sah nur auf Serafin. Es war ihm unbegreiflich. Der Richter hätte die Aufgabe an jeden Wolf weitergeben können. Wie also konnte ein Vater ausgerechnet seiner Tochter ein solches Amt aufbürden? Die Hohen Richter wurden selten alt. Die Aufgaben eines Orakels waren kräftezehrend. Zehn Jahre schon … Plötzlich begriff er. War der Richter gestorben, weil …?
Noch bevor er sie danach fragen konnte, brach Dornstern das Schweigen.
»Unter Zeugen bin ich, die Hohe Richterin, so wie es Brauch ist, zum Angeklagten in den Kerker gestiegen, um ihm in die Augen zu sehen. Er soll wissen, dass er morgen früh in der Dämmerung vorm Hohen Gericht zu stehen hat.«
Morgen schon …
»Schattenklaue, mach dich bereit für das Urteil der Sichel !«, rief Dornstern.
Er nickte langsam. »Ich bin bereit dazu.«
Sie wollte gehen, da hob er noch einmal den Kopf, um sie anzusehen. Dornstern hatte stark abgenommen, ihre Züge waren so viel ernster und härter geworden. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch einmal wiedersehe«, sagte er, mehr zu sich selbst als an sie gerichtet.
Die Augen der Richterin verengten sich. »Du unterschätzt mich, Schattenklaue, wenn du glaubst, dass ich milde urteilen werde, bloß weil wir einmal Freunde waren …«
Er musste lächeln.
»Ich kenne dich. Ich würde dich nie unterschätzen. Und ich habe nicht um ein mildes Urteil gebeten«, fügte er voller Ernst hinzu.
Dornstern erwiderte forschend seinen Blick, dann nickte sie kurz und drehte ihm jäh den Rücken zu.
Maron folgte erleichtert den forschen Schritten ihrer Herrin. Der Wachmann öffnete die Kerkertür, und schon war Dornstern aus dem dunklen Raum verschwunden. Ein Schlüssel wurde umgedreht, kurz hallten Schritte auf dem Burghof, dann herrschte Stille – bis auf das trostlose Trommeln der Regentropfen.
*
Gerade noch rechtzeitig konnte sich Blitzschweif in einer nahen Mauernische in Sicherheit bringen. Er hielt den Atem an, als Dornstern mit Ehrenpreis, ihrem Leibwächter und Maron an ihm vorbei zum Burgtor eilte – vermutlich auf dem Weg zur Hügelgrotte, dem Ort, den außer der Priesterin und ihrem Gefolge kein Wolf betreten durfte.
Erst recht nicht seit der Sache, die sich dort vor zehn Jahren zugetragen hatte, wie ihm seine Mutter erzählt hatte. Jeder kannte die Geschichte …
Blitzschweif schüttelte den Gedanken ab und zwängte sich aus der Mauernische. Er war nicht wegen Dornstern hier. Es war ihm eigentlich auch nicht um das Gespräch unten im Kerker gegangen, von dem er jedes Wort mit angehört hatte. Er hatte ihn einfach sehen wollen. Schattenklaue. Schon seit Stunden war er um den Keller herumgeschlichen und hatte verstohlene Blicke durch das vergitterte Fenster geworfen. Lange hatte er sich nie allein dort aufhalten können, im Vorhof der Rotburg war viel los gewesen. Mal ganz von Kaltschnauze abgesehen, der den Großteil des Tages an der Spitze des Turms auf seinem Aussichtsposten zu verbringen pflegte, und der seine Augen stets überall hatte.
So war Blitzschweif der Regen, der ihn bereits von oben bis unten durchnässt hatte, eigentlich ganz recht gekommen. Bei diesem Wetter blieben die einfachen Wolfsmenschen in ihren Zelten, die mächtigen indes im Turm, und so hatte er, ohne bemerkt zu werden, einen genaueren Blick auf den
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