Dreimond - Das verlorene Rudel
sie erkannte, dass keine weiteren Erklärungen folgen würden.
»Meinst du nicht, dass du es dir ein bisschen leicht machst?«, fragte sie. »Wir waren auch ohne das Satorakt stark!«, fügte sie energisch hinzu. »Ist so ein Zauberding es wirklich wert, einen Krieg heraufzubeschwören?«
»Zum Krieg gegen Lanzburg wäre es früher oder später ohnehin gekommen«, erklärte Schattenklaue unbeirrt. »Die Menschen sind immer weiter in unseren Wald eingedrungen – das müsste doch gerade dich in Zorn versetzen!«
»Darum geht es nicht!«, rief Dornstern. »Es geht darum, ob es wirklich nötig war, in ihre Stadt einzudringen und die Astorklinge zu stehlen! In was für ein Licht rückt das uns Wölfe? Hat nicht erst unser Raubzug das Gleichgewicht zerstört?«
Ihre schwarzen Augen leuchteten. Während sie sprach, sah sie hinauf zu den gradlinigen Fichtenstämmen, als wollte sie sagen, dass einzig hier im Wald noch alles in fester Ordnung war. Schattenklaue folgte ihrem Blick. Er wusste nur zu gut, von welchem Gleichgewicht sie sprach. Seit jeher war es Brauch gewesen, dass das Satorakt zu einem Teil den Wölfen im Satorwald, zum anderen Teil den Menschen in Lanzburg anvertraut war. Ein Friedensabkommen, das schon so weit zurücklag, dass all die Geschichten von Wertieren unter der Lanzburger Jugend längst als abergläubisches Geschwätz der greisen Alten belächelt worden waren – bis Alkarn die folgenschwere Entscheidung gefällt hatte, dass es Zeit für die Wölfe war, das Versteckspiel aufzugeben. In einer Vollmondnacht hatte er die Menschenstadt geplündert und den von ihnen aufbewahrten Teil, die Astorklinge , geraubt – ein waghalsiger Schritt, dessen Folgen vielen im Rudel nicht geheuer waren.
Selbst Pfauenauge, die sonst so besonnene Erste Beraterin des Leitwolfs, hatte ihr Amt aus tiefer Empörung über Alkarns Entscheidung niedergelegt.
»Versteh mich nicht falsch. Unser Leitwolf ist ein großer Anführer! Ich weiß, er liebt sein Rudel!«, meinte Dornstern. »Aber vor dem Angriff auf Lanzburg hat es keine Kämpfe am Waldesrand gegeben …!«, ergänzte sie nicht ohne Bitterkeit.
»Weil wir unser wahres Ich verborgen haben!«, entgegnete er finster. »Versteh doch, Alkarn will ein Zeichen setzen, damit sich kein Wolf mehr für sein Blut zu schämen braucht! Was ist das für ein Frieden, wenn wir uns voller Scham im Wald verkriechen?«
»Im Wald verkriechen? Warum sagst du das? Woran fehlt es dir hier?« Dornstern rang empört nach Luft, ehe sie mit bebender Stimme fortfuhr. »Hier im Wald geht es uns doch gut! Wozu die Welt erobern , wenn man eine solche Heimat hat?«
Er sah von ihr zu den immer gleichen Nadelbäumen – und musste plötzlich schmunzeln.
»Was hast du?«
Misstrauisch kniff Dornstern die Augen zusammen.
Da strich er ihr aufmunternd durch das zerzauste Haar.
»Für dich ist die Welt in Ordnung, wenn du dein Wild und deine Fichten um dich hast, nicht wahr?«
Ein wenig beleidigt wischte sie seine Hand beiseite. »Ich bin das Kind unseres höchsten Priesters, ich bin die zigtausend Mal bessere Jägerin – und trotzdem wirst du wohl nie aufhören, mich wie deine kleine Schwester zu behandeln.«
»Da hast du wohl recht«, sagte er lächelnd und blickte zum Himmel. »Es ist hell geworden. Zeit heimzukehren.«
Nun war es an Dornstern, zu grinsen.
Ein spöttischer Unterton lag in ihrer Stimme. »Ach? So plötzlich ist es Zeit, heimzukehren? Für uns beide oder nur für mich? Ich habe dich mit meiner Fragerei doch wohl nicht von etwas Wichtigerem abgehalten?«
Er sah sie verständnislos an. »Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass ich ahne, dass du mich nun höchstwahrscheinlich schon einmal zur Rotburg vorausschicken willst, während du aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen noch ein Weilchen hier sitzen bleibst, nicht wahr?«
Er wandte ertappt den Blick ab. Ärgerlicherweise hatte sie nicht ganz unrecht mit ihrer Vermutung …
»Ach, Schattenklaue«, holte Dornstern belustigt aus, »dachtest du wirklich, es wäre mir nicht aufgefallen, dass du jedes Mal, wenn ich dich zu einem deiner nächtlichen Jagdausflüge begleite, am Ende zurückbleibst? Dass du immerzu dein Jagdmesser verlierst oder von einer urplötzlichen Müdigkeit erfasst wirst?«
»Was willst du damit sagen …?«
Trotz seiner Verlegenheit konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Ach, sag schon, großer Bruder«, bat Dornstern unnachgiebig wie eine Richterin. »Mit welcher
Weitere Kostenlose Bücher