Dreizehn Stunden
der Zunge, so dass er es beinahe laut ausgesprochen hätte und er sich gerade noch
beherrschen konnte:
Süßwasser.
Sie war Sängerin gewesen. Xandra. Mein Gott, war sie alt geworden!
Ein Glas voller Sonnlicht, ein Kelch so klein.
Schenk Süßwasser.
Ein Mund voller Liebe, ein Schluck voller Pein.
Trink Süßwasser.
Ungefähr Mitte der achtziger Jahre musste das gewesen sein. |65| Griessel erinnerte sich daran, wie sie damals gewesen war: eine unglaublich sinnliche blonde Sängerin mit einer Stimme wie
die Dietrich und mit genügend Selbstvertrauen, um sich selbst nicht ganz ernst zu nehmen. Er kannte sie also nur aus dem Fernsehen
und von den Titelblättern der Zeitschriften, aus jenen Tagen, bevor er an die Flasche geraten war. Vier, fünf Hits hatte sie
gehabt, so erinnerte er sich, »Ein Eselkarren nur für zwei«, »Die weiten Hänge des Tafelberges« und ihren größten, »Süßwasser«.
Verdammt, sie war so ein Riesenstar gewesen, und was war aus ihr geworden? Bennie Griessel empfand Mitleid für sie, Verständnis
und Sympathie.
»Sie können sich also nicht daran erinnern, was gestern Abend geschehen ist?«
»An kaum etwas.«
»Mevrou Barnard«, sagte Dekker steif und förmlich. »Ich habe nicht den Eindruck, dass der Tod Ihres Mannes Sie sehr betroffen
macht.«
Er begeht einen Fehler, dachte Griessel. Er interpretiert ihre Reaktionen falsch, er ist zu angespannt, handelt zu überstürzt.
»Nein, Inspekteur, ich trauere nicht. Aber wenn Sie mir einen Gin mit Bitter Lemon bringen, werde ich mir Mühe geben.«
Einen Moment lang war Dekker aus dem Konzept gebracht, aber dann zuckte er mit den Schultern und fragte: »Ist Ihnen noch irgendetwas
von gestern Abend im Gedächtnis geblieben?«
»Genug, um zu wissen, dass ich es nicht gewesen bin.«
»Aha.«
»Kommen Sie heute Nachmittag noch einmal wieder. Drei Uhr wäre eine gute Zeit. Für mich die beste des Tages.«
»Das ist nicht möglich.«
Sie winkte ab. Schon gut.
»Ich werde Ihr Blut auf Alkohol testen lassen müssen.«
»Nur zu.«
Dekker stand auf. »Ich hole den zuständigen Kollegen.«
Griessel folgte ihm. Im Esszimmer waren Dick und Doof dabei zusammenzupacken.
»Kannst du ihr noch kurz Blut abnehmen, bevor ihr aufbrecht?«
|66| »Klar, Chef«, sagte Jimmy.
»Fransman«, begann Griessel. Ihm war bewusst, dass er sehr behutsam vorgehen musste. »Du weißt, dass ich Alkoholiker bin?«
»Ah!«, sagte Arnold, der Dicke, »Ermittler, die sich verbünden. Was könnte schöner sein?«
»Hau ab!«, sagte Griessel.
»Ich war schon auf dem Sprung«, erwiderte Arnold.
»Ihr müsst noch den Mercedes draußen auf der Straße untersuchen«, sagte Dekker.
»Ist als Nächstes dran«, versprach Arnold und verließ das Zimmer, bepackt mit Beweisstücken und seiner Ausrüstung.
»Also?«, fragte Dekker, als sie alleine waren.
»Ich weiß, wie sie sich fühlt, Fransman.«
»Die fühlt nichts. Ihr Mann liegt da, und sie fühlt nichts. Sie hat ihn umgelegt, glaub mir. Die alte Leier.«
Wie erklärte man einem Nicht-Säufer, wie sie sich jetzt fühlte? Alexandra Barnard dürstete mit jeder Faser ihres Wesens nach
Alkohol. Sie war eine Ertrinkende in der schrecklichen Flut dieses Vormittags, und Alkohol war ihre einzige Rettungsboje.
Griessel wusste das.
»Du bist ein guter Fahnder, Fransman. Du hast den Ablauf perfekt organisiert, du befolgst alle Regeln, und du magst sicherlich
recht haben. Aber wenn du ein Geständnis haben willst … Gib mir eine Chance. Unter vier Augen geht sie vielleicht mehr aus
sich heraus.«
Griessels Handy klingelte. Er blickte Dekker an, während er es hervorholte. Sein farbiger Kollege wirkte nicht sonderlich
erbaut von seinem Vorschlag.
»Griessel.«
»Bennie, ich bin’s, Vusi. Ich bin im Videoüberwachungsraum der Metro. Es sind zwei, Bennie.«
»Zwei was?«
»Zwei Mädchen, Bennie. Ich stehe hier vor den Bildschirmen und sehe, wie fünf Kerle zwei Mädchen durch die Langstraat jagen.«
|67| 7
»Verdammt!«, sagte Bennie Griessel. »Sie jagen die Mädchen? Die Langstraat rauf?«
»Ja, und laut Aufzeichnung war das heute Morgen um Viertel vor zwei. Fünf Kerle, die von der Waalstraat hergekommen sind,
hetzen die Mädchen in Richtung Kirche.«
»Wie weit ist das, vier Häuserblöcke?«
»Sechs Blöcke zwischen der Waalstraat und der Kirche. Ein halber Kilometer.«
»
Jissis
, Vusi, so was macht man doch nicht, wenn man einer Rucksacktouristin das Portemonnaie klauen
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