Dreizehn Stunden
Er hielt ihr das Glas hin. Sie nahm es mit gotterbärmlich zitternden Händen an. Dann
trank sie einen tiefen, intensiven Zug, wobei sie die Augen schloss.
Griessel kehrte zum Barschrank zurück und stellte die Flasche weg. Als er sich wieder setzte, sagte er: »Ich kann Ihnen nicht
mehr zu trinken geben als das.«
Sie nickte nur.
Er wusste, wie sie sich in dem Moment fühlte. Er wusste, wie der Alkohol durch ihr ganzes Wesen floss, eine weiche Welle der
Heilung, Balsam für die schmerzenden Stellen. Er brachte die lästigen Stimmen zum Schweigen und hinterließ einen silbrigen, |70| glatten Strand des Friedens. Er gab ihr eine Chance. Manchmal brauchte man vier Schlucke, manchmal mehr. Man musste seinem
Körper ermöglichen, die göttliche Glut aufzunehmen. Dann wurde ihm bewusst, dass er mit einem gewissen Verlangen das Glas
an ihren Lippen anstarrte. Er roch den Alkohol, er spürte, wie sich sein ganzer Körper danach sehnte. Er lehnte sich in seinem
Stuhl zurück, atmete tief ein und konzentrierte sich auf die Zeitschriften, die auf dem Tisch lagen:
Visi
und
House & Garden
, zwei Jahre alt, aber ungelesen. Dann sagte sie: »Danke«, und er hörte, dass ihre Stimme den bissigen Klang verloren hatte.
Ruhig, fast ohne zu zittern, stellte sie das Glas ab und bot ihm eine Zigarette an.
»Nein, danke«, sagte er.
»Ein Alkoholiker, der nicht raucht?«
»Ich rauche, aber nur selten.«
Sie zündete sich eine an. Der Aschenbecher neben ihr war bereits voll.
»Mein Freund bei den Anonymen Alkoholikern ist Arzt«, erklärte er.
»Dann suchen Sie sich einen anderen«, versuchte sie zu scherzen. Aber es gelang ihr nicht. Stattdessen wanderten ihre Mundwinkel
nach unten, und Alexandra Barnard begann still zu weinen. Ihr Lächeln gefror zu einer schmerzlichen Grimasse, die Tränen liefen
ihr aus den Augen, und sie legte die Zigarette hin und schlug beide Hände vor das Gesicht. Griessel zog ein Taschentuch aus
der Hosentasche. Er hielt es ihr hin, aber sie sah es nicht. Ihre Schultern zuckten, der Kopf sank ihr auf die Brust, und
die langen Haare fielen ihr wieder wie eine Gardine vor das Gesicht. Griessel stellte fest, dass sie silberblond waren, was
selten vorkam. Die meisten Frauen färbten sich die Haare, und er fragte sich, warum ihr Aussehen ihr inzwischen derart gleichgültig
war. Sie war doch ein Star gewesen. Was hatte sie so tief heruntergezogen?
Er wartete, bis ihr Schluchzen abebbte. »Mein Arzt heißt Doktor Barkhuizen. Er ist siebzig Jahre alt, Alkoholiker und trägt
lange Haare, zu einem Zopf geflochten. Er hat erzählt, seine Kinder hätten ihn gefragt, warum er rauche, und er habe damals |71| die verschiedensten Gründe genannt – es helfe ihm beim Stressabbau, es schmecke ihm – …« Griessel sprach ruhig. Er wusste,
dass seine Geschichte banal war, aber das spielte keine Rolle, er wollte nur einen Dialog in Gang bringen. »Und da sagte seine
Tochter, dann würde es ihm sicher nichts ausmachen, wenn sie auch anfinge zu rauchen. Da erkannte er, dass er sich etwas vormachte,
und hörte auf. Bei mir war das anders. Als ich aufgehört habe zu trinken … da habe ich einfach das Interesse am Rauchen verloren.
Es war für mich nie so wichtig. Jetzt rauche ich nur noch drei, vier am Tag.«
Endlich blickte sie auf und sah das Taschentuch. Sie nahm es an. »Ist es schwer gewesen?« Ihre Stimme klang noch tiefer als
zuvor. Sie wischte sich das Gesicht ab und schnäuzte sich die Nase.
»Mit dem Trinken aufzuhören? Ja, das war schwer. Ist es noch.«
»Ich könnte das nicht.« Sie knüllte das Taschentuch zusammen, griff nach dem Glas und trank.
Er antwortete nicht. Jetzt musste er ihr Zeit lassen, damit sie anfing zu reden. Er wusste, sie würde es tun.
»Jetzt habe ich Ihr Taschentuch …«
»Sie können es behalten.«
»Ich werde es waschen lassen.« Sie stellte das Glas hin. »Ich war das nicht.«
Griessel nickte.
»Wir haben nicht mehr miteinander geredet«, sagte sie und schaute in eine andere Ecke des Zimmers.
Griessel saß still da.
»Er kam immer um halb sieben aus dem Büro. Dann ging er rauf in die Bibliothek, stand da und sah mich an. Um zu überprüfen,
wie betrunken ich war. Wenn ich nichts gesagt habe, ging er runter in die Küche und aß allein zu Abend oder zog sich in sein
Arbeitszimmer zurück. Oder er ging einfach wieder weg. Jeden Abend hat er mich ins Bett gebracht. Jeden Abend. Nachmittags,
falls ich noch denken konnte, habe ich mich
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