Drift
nahm seinen Arm erst nach der Hälfte des Weges von Martins Schultern, ziemlich genau in dem Moment, in dem die Umarmung Martin unangenehm zu werden begann. Warum Fred seine Wohnung in Bern erwähnt hatte, fragte Martin, glaubte er doch zu wissen, was gleich kommen würde.
»Na ja«, sagte Fred, »ich hab mir gedacht: Du hast keine Bleibe, ich habe eine leere Wohnung … Wenn du willst, kannst du dort wohnen, bis du was Eigenes gefunden hast.«
Martin konnte es kaum glauben. Solche Angebote bekam Sandra Bullock in Filmen, nicht er in der Realität.
»Ist das dein Ernst?«
»Warum nicht? Ich hab nichts Wertvolles in der Bude, du könntest alles ausräumen und ich würde dich ausnützen und dick von der Versicherung kassieren …«
»Das würde ich nie …«
»Ich mach doch nur Spaß, Mensch.«
Martin überlegte.
»Und? Was sagst du?«
|259| Es gab keinen Grund, den Vorschlag abzulehnen. Im Gegenteil, Fred hatte ihn nicht nur vor gröberen Verletzungen bewahrt und ihm vielleicht sogar das Leben gerettet; mit diesem Angebot half er ihm weit mehr, als man es von irgendjemandem erwarten konnte.
»Okay«, willigte er ein und hielt Fred im Gehen die Hand hin, die Fred sofort ergriff.
»Abgemacht«, sagte er. »Cool!«
Mehr hatte er nicht dazu zu sagen.
»Wie viel kostet die Miete?«
»Vergiss es. Gieße den Gummibaum und hol die Post aus dem Briefkasten, damit sind wir quitt.«
Martin konnte sein Glück kaum fassen. Er beschloss, dass er Fred einen Umschlag in der Wohnung hinterlassen würde – wenigstens zweihundert für jeden Monat, den er dort gewohnt haben würde. Bern, dachte er und lachte auf.
»Was? Was lachst du?«
»Ach, ich erinnere mich nur gerade. Ich hab schon mal ein Jahr lang in Bern gelebt und ich hab gedacht, sympathischer Dialekt, hübsche Mädchen und so, weißt du …«
»Und dann hast du festgestellt«, beendete er den Satz für Martin, »was für einen Minderwertigkeitskomplex viele von ihnen haben und dass sie jeden, der auch nur ansatzweise nach Zürich klingt, am liebsten aufspießen würden.«
»Genau das. Bin dann förmlich geflohen.«
»Siehst du, drum musst du keine Miete zahlen; du bezahlst mit grauen Haaren und Lebensjahren …«
»Äuäää schooo«, fügte Martin auf Berndeutsch hinzu.
Die beiden lachten bis zum Eingang von Frau Jurics Gebäude, wo Martin Fred anhielt und mit dem Finger auf den Lippen zur Ruhe gemahnte.
»Psst, wir wollen nicht alle wecken.«
»Hast du die Miete bezahlt?«, wollte Fred wissen und Martin rechnete nach und nickte.
|260| »Im voraus. So bezahle ich sogar zwei Tage mehr, aber das ist okay, sie ist eine sehr liebe Frau.«
Fred nickte und sie nahmen die neunundneunzig Stufen bis in die Wohnung hinauf in Angriff.
Martin war froh, dass ihn Frau Juric nicht in dem Zustand sehen musste, die Verletzung hätte ihr bestimmt einen Schreck eingejagt. Er schrieb ihr eine Notiz, in der er sich herzlich für ihre Gastfreundschaft und ihre fantastische Küche und den gemeinsamen Abend bedankte, und legte die Schlüssel und einen Messingelefanten von der Kommode drauf.
Sie schlichen sich mit Martins Bagagen aus der Wohnung und schlossen leise die Türe hinter sich.
Unten auf der Straße angelangt, hielt Fred ein vorbeifahrendes Auto an und bat den Fahrer, sie ein Stück weit mitzunehmen.
»Mein Freund ist verletzt und schwer sediert, kann kaum gehen, der arme Kerl.«
Der Fahrer sah sich Martin an, schüttelte den Kopf und winkte die beiden herein.
Zwei Kilometer weiter stiegen sie aus, bedankten sich überschwenglich und standen fünf Minuten später vor der Wohnungstür von Freds Tante.
»Sie ist nicht da«, sagte Fred, »musst nicht auf Zehenspitzen gehen.«
Fred führte Martin ins kleine Wohnzimmer und befahl ihm, sich zu setzen und überraschen zu lassen. Martin hatte bereits vergessen, dass Fred eine Überraschung erwähnt hatte.
»Was ist es?«, fragte er.
»Soll ich wirklich den Satz sagen? Willst du ihn wirklich hören?«
»Welchen Satz?«
»Dass es keine Überraschung ist, wenn ich dir sage, was die Überraschung ist?«
Martin nickte lächelnd.
|261| »Stimmt. War ’ne blöde Frage.«
»Bier oder Wein?«
»Bier. Oder ist das etwa die Überraschung?«
»Sei kein Idiot.«
Die Überraschung war Koks.
»Du willst mich wohl verarschen!«, platzte Martin beim Anblick des Spiegels und des Pulvers heraus, das Fred draufschüttete.
»Wie viel ist das?«
»Etwas mehr als zwei Gramm. Und wir müssen ziemlich zuschlagen,
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