Drift
gekrümmte Chirurgennadel mitsamt Faden.
»Viele Nähte, bitte, keine großen Abstände – bitte …?«
Der Arzt begann zu nähen, ohne auf Martin zu reagieren.
»Bitte?«, wiederholte Martin und der Arzt erbarmte sich seiner.
|256| »Es wird kaum etwas sichtbar bleiben«, sagte er, »Narben verheilen in Ihrem Alter hervorragend.«
Was?, dachte Martin und spähte aus den Augenwinkeln nach Fred, der im Türrahmen stand und der seinem Gesichtsausdruck nach denselben Gedanken hatte: Hä? Wie denn das?
»Warum das?«, fragte Martin und der Arzt erklärte: »Narben aus der Kindheit und Jugend bleiben länger sichtbar als Narben aus späteren Jahren.«
Das hatte Martin nicht gewusst. Hätte er raten müssen, er hätte auf einen genau umgekehrten Zusammenhang getippt: Je früher im Leben man sich eine Narbe einfing, desto größere Chancen auf totales Verheilen hatte man. Aber das war offenbar auch nur eine von vielen Annahmen, die zwar irgendwie logisch schienen, aber nichts mit der Realität zu tun hatten – wie so einiges in seinem Leben, dachte er.
»Ich werde nie wieder eine Freundin finden«, seufzte Martin, zu betrunken, um wirklich die gesamte, schmerzhafte Tragweite des Gedankens zu fühlen.
Die Schwester lachte kurz spitz auf und hob sogleich den Blick zum Arzt, der sie tadelnd ansah, dann jedoch versöhnlich sagte: »Machen Sie sich bezüglich Ihres Aussehens mal keine Sorgen. Kümmern Sie sich lieber um Ihren Alkoholkonsum.«
Martin sah ihn an und hätte gern geantwortet, aber seine linke Backe war komplett eingeschlafen, und so schwer ihm das Sprechen schon vor der Betäubungsspritze gefallen war, umso schwerer fiel es ihm jetzt. Er hätte gern widersprochen, aber die Schwester nickte und sah ihm dabei tief in die Augen, also drückte er ein »okay« heraus. Keine Sorgen wegen dem Aussehen. Das war gut. Sorgen bezüglich des Alkoholkonsums. Geradezu ein Witz.
Mit dickem Verbandsmaterial und Pflaster auf der Wange folgte Martin Fred durch die Altstadt.
»Das war’s«, sagte Martin. »Morgen packe ich mein Zeug und gehe zurück.«
|257| Er gab Fred eine Kurzversion seiner Geschichte. Wie ihn Helena zu Recht vor die Tür gesetzt und ihm gesagt hatte, dass sie nie wieder etwas von ihm hören wolle.
»Meinst du, das lässt sich wieder einrenken?«, fragte Fred.
»Keine Ahnung«, antwortete Martin niedergeschlagen. Er hoffte es zwar, aber er kannte Helena gut genug, um zu wissen, wie stur sie an ihren Entscheidungen festzuhalten pflegte und wie gering seine Erfolgsaussichten waren.
»Ich glaube, meine einzige Chance ist, etwas auf die Beine zu stellen und ihr zu beweisen, dass ich kein verlorener Fall bin.«
»Ich fliege übermorgen für ein halbes Jahr in die USA«, sagte Fred. »Bin als Kameramann engagiert.«
»Super, Mann! Das hört sich ja super an!«
»Halb so glamourös, wie man meinen würde. Die Tage sind zwanzig Stunden lang und dazu Stress, dass du grau wirst von.«
Martin betrachtete Fred von der Seite und versuchte, ihn sich hinter einer Kamera vorzustellen.
»Kenne ich den Regisseur oder die Schauspieler?«
»Nein«, antwortete Fred, »ist ein Independent-Ding mit sehr wenig Kohle. Aber sollte gut werden.«
»Was für dieses neue Festival? Wie heißt’s schon wieder?«
»Sundance«, sagte Fred.
»Genau.«
Sie schwiegen, während sie die lange Brücke im Hafen überquerten. Auf der anderen Seite angekommen, blieb Martin stehen.
»Ich muss hier nach links«, sagte er.
Fred stellte sich neben ihn und nickte.
»Hör zu«, begann Martin, »ich weiß wirklich nicht, wie ich dir danken soll … Du hast mir vermutlich das Leben gerettet. Und …«
»Komm, übertreib mal nicht. Außerdem hättest du dasselbe getan an meiner Stelle.«
|258| Martin sah zu Boden, dann hob er den Blick und hielt Fred die Hand hin. »Vielen Dank, mein Alter. Für alles.«
Fred nahm Martins Hand und drückte sie.
»Ich hab um sechs Uhr dreißig einen Flug nach Zürich. Und in Bern eine leere Einzimmerwohnung. Was meinst du?«
Martin begriff nicht sofort. Immer noch Freds Hand drückend, sah er ihn fragend an.
»Was meinst du?«
»Ich hab den Flug gestern noch mal bestätigt – das Flugzeug ist halb leer. Komm doch gleich mit.«
Martin überlegte. Warum eigentlich nicht.
»Okay, warum eigentlich nicht.«
»Super! Komm, wir holen dein Zeug und gehen dann zu mir, bis wir auf den Flug müssen. Ich hab zu Hause nämlich noch eine Überraschung.«
Martin nickte und sie gingen los. Fred
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