Drift
Meer. Von der Liebe, der Ferne und dem Zuhause.«
»Die Bora kommt«, wirft Franco ein.
|314| Martin schaut zum Mast, wo sich das Windrad immer schneller dreht.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagt Gianni zu Franco, »lass uns das Geschirr abräumen.«
Martin nickt den beiden zu. Sie haben tatsächlich nicht viel Zeit. Die angenehm tiefe Frauenstimme hat eine Bora von acht Beaufort und mehr vorausgesagt und der Computer zeigt ein ähnliches Bild. Doch Barometerwerte, die ihm früher Kopfzerbrechen bereitet hätten, machen ihn jetzt nicht sonderlich nervös: Er hat ein Schiff, dessen Kielbombe ein Gewicht von fünfzehn Limousinen hat – schweren Limousinen. Und die Segel, die sich per Knopfdruck und im Falle eines Stromausfalls mittels zehnfach übersetzten Winschen reffen lassen, können binnen Sekunden von der Größe eines Basketballfeldes auf das eines Bettvorlegers verkleinert werden.
Statt sich Sorgen zu machen, freut sich Martin auf die acht Beaufort und die Wellen, die sie auf ihrer Passage nach Italien bei der Traverse gleich hinter den Inseln erwarten.
Helena, denkt er, und augenblicklich klingelt sein Handy. Er nimmt ab.
»Beängstigend«, sagt er.
Ein kristallenes Lachen am anderen Ende.
»Natürlich! Du denkst die ganze Zeit nur an mich und an gar nichts anderes! Alter Charmeur …«
»Nur an dich, dich und Mia. Und an sonst gar nichts. Sag, wie geht es meinen beiden Engeln?«
»Ach, es ist wunderbar. Die Kleine schläft und ich sitze hier auf dem Trg vor dem Sveti Anton und trinke Kaffee. Die Sonne scheint, ein bisschen Wind, es ist warm, perfekt.«
Martin sieht sie vor sich. Seine wunderschöne, bezaubernde Helena, mit ihrem dunklen Haar und dem spitzen Kinn, wie sie, die langen Beine leger übereinandergeschlagen, mit dem Fuß den Kinderwagen schaukelt, das Telefon in der einen, die Zigarette zwischen den Fingern der anderen Hand; sie ist gewiss der schönste |315| Anblick auf dem weißen, weiten, mit Steinplatten belegten alten Platz vor der noch älteren Kirche beim westlichen Tor zur Stadt.
»Du rauchst«, sagt er.
»Hm.«
»Well, well, well.«
Sie hatten beide damit aufgehört, als sie schwanger war. Beide gleichzeitig. Sie waren zwar nie Anhänger von übertriebenem Paarverhalten gewesen, aber nachdem sie monatelang vergeblich versucht hatte, ihren Zigarettenkonsum zu reduzieren, hatte er beschlossen, mit gutem Beispiel voranzugehen und es ihr so zu erleichtern: Er rauchte das angefangene Päckchen fertig und das war’s. Tatsache war, dass es ihm leichter gefallen war, als er gedacht hätte. Und Helena hatte mitgemacht. Ein paar Monate später war sie schwanger.
Und von da an hatte sich alles geändert.
»Ich wollte eigentlich nur fragen, ob ihr schon unterwegs seid und wie es läuft. Ich hab gehört, es soll dort oben ziemlich heftig winden, heute und morgen.«
»Yep, soll und wird es hoffentlich auch. Aber bisher ist’s noch still. Gianni und Franco räumen grad das Geschirr weg, dann machen wir uns langsam auf den Weg.«
»Wie sind die beiden?«
»Angenehm, sehr angenehm sogar.«
»Haben sie’s im Griff?«
»Das wird sich schon bald zeigen. Aber ich denke schon.«
»Pass auf dich auf, mein Schatz.«
»Werde ich.«
Martin sitzt vor seinem schwarzen, in Leder gebundenen Logbuch. 14.00 Uhr, 40–50 Knoten Wind, N/NE, Spitzen bis 60, Wellengang 4–5 Meter, steil, teils fliegendes Wasser. Er notiert alles, klappt das Logbuch zu und springt zurück aufs Deck, um sich möglichst schnell wieder selbst hinters Steuer zu stellen. Franco übergibt es ihm mit einem Lächeln.
|316| »Danke«, ruft Martin durch den Wind.
»Wahnsinn«, brüllt Franco, »so durften wir sie nie segeln, früher.«
»Tempi passati!«, antwortet Martin und zieht das Schiff noch ein paar Grad härter an den Wind.
Sie pflügen durch die Wellen, wie im Traum, strahlende Gesichter, nass bis auf die Knochen, aber Martin friert nicht. Ob es die Sonne ist, die ihn wärmt, oder das Adrenalin und die verschiedenen Endorphine, die durch seinen Körper schießen – was kümmert es ihn; sie segeln der Bora und den dunklen Wolken, die sie verfolgen, auf Halbwindkurs davon, sie reiten über die Wellen, die, steil und spitz, das Schiff erzittern lassen müssten, aber die Refula lässt sich nichts anmerken: Sicher wie der Adler im Sturzflug halbiert sie die Schaumkronen und surft geradezu über die Wellenberge.
Martin kann sehen, wie die kroatische Küste und die Inseln davor bei jedem Blick zurück kleiner
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