Drift
die Tür tagsüber abzuschließen. Man geht also rauf, öffnet das Fenster im Treppenhaus und stellt die Tasche so hin, dass man sie runterschmeißen kann, sollten die Bullen drin sein. Eigentlich sollte man auch die Knarre in die Tasche tun – weil die Typen bei Aleksander aber auch von der Konkurrenz sein könnten und gerade im Begriff, Aleks und einen selbst auszunehmen, behält man sie auf sich – lieber ein paar Monate wegen illegalem Waffenbesitz als Friedhof.
Man klingelt und es dauert einen kleinen Augenblick zu lange, bis Aleksander von drin ruft, »Wer da?« – drum geht man rückwärts zum Fenster, sagt seinen Namen und lehnt sich lässig gegen das Fenstersims, während man hinter dem Rücken mit der einen Hand die Waffe aus dem Hosenbund zieht und mit der anderen die Tasche festhält, um sie jederzeit runterwerfen zu können. Die Jungs sehen, was man tut und stellen sich auf, um sofort reagieren zu können. Aleks ruft: »Moment, bin gleich da!« Und man hebt die Tasche über den Sims. Die Tür wird aufgerissen und man macht Folgendes gleichzeitig: Man lässt die Tasche über den Sims in den Garten fallen, geht in die kniende Schützenposition und zielt auf die Tür, senkt die Waffe allerdings gleich wieder, weil die Männer, die zum Vorschein kommen, Marken um den Hals tragen, mit Glocks auf einen zielen und »Polizei!« schreien. Dann das Prozedere wie im Film: Waffe hinwerfen, sich langsam auf den Boden legen und die Hände hinter dem Kopf verschränken. Man tut das alles und wird festgenommen. Zusammen mit Aleks und ein paar seiner Jungs.
|300| TATTOO
Da steht: »Ich werde auf dich warten.«
Das sind die Worte, die einen retten, die Worte, auf die man gehofft hat.
Sie wird auf einen warten. Sie, die große Liebe. »Ich werde auf dich warten«, und darunter die Signatur. Sie hat eine lebendige und doch elegante Unterschrift, benutzt Schnürlischrift, wie man sie in der Primarschule genannt hatte; »Schnürli«, weil die Buchstaben aneinandergesetzt werden, ohne den Stift vom Papier zu nehmen, weil die Wörter aussehen, als hätte man sie mit einer Schnur gebildet.
Man sitzt in seiner Zelle und versucht, die Tränen zurückzuhalten. Wenigstens ist man allein; so brutal Einzelhaft im ersten Augenblick auch scheinen mag, man hat wenigstens seine Ruhe. So wird man das halbe Jahr überleben, mit Schreiben, Lesen und Auf-ihre-Briefe-warten. Man liest ihn wieder und wieder, den ersten Brief, den sie einem geschrieben hat. Und man bleibt immer wieder an der Unterschrift hängen. Sie ist so bezaubernd, sie gehörte eigentlich eingerahmt oder – noch besser – tätowiert. Man überlegt. Reißt sich kurzerhand den Knopf an den Jeans ab. Läutet dem Wächter. »Was ist jetzt?« Man sagt ihm, man brauche Nadel und Faden. »Wofür?« – »Hosenknopf annähen – ist abgefallen.« Er werde es aufschreiben. »Die von der Nachtschicht bringen Ihnen mit dem Abendessen und den Medikamenten etwas Nähzeug.«
Man bekommt Methadontabletten. Nach der Verhaftung durfte man irgendwann einen Arzt sehen und er nahm Blut und machte einen Drogentest, und als der positiv ausfiel, wollte er wissen, wie viel man täglich konsumiert habe, damit er einem eine entsprechende Dosis Methadon verschreiben konnte. »Ein Gramm«, lügt man. Besser, man hat zu viel als zu wenig. Und man nimmt sich vor, während dieses halben Jahres einen Entzug zu machen – ohne dies |301| dem Knastarzt und den Wärtern zu sagen; vielleicht kann man die Methadontabletten für etwas tauschen – Zigaretten, Papier, einen Gefallen, man weiß nie.
Die ersten zwei Wochen im Gefängnis hat man hinter sich, es erwarten einen zweiundzwanzg weitere. Immerhin hat man das Methadon schon von hundertsechzig auf achtzig Milliliter halbiert. Das Ziel ist, spätestens in der fünften Woche clean zu sein.
Mittlerweile hat man einen Fernseher in der Zelle, Bücher und stangenweise Zigaretten. Der Tisch in der Zelle sieht aus, wie man sich den Tisch eines Schriftstellers vorstellt: links eine Schachtel voll unbeschriebener Blätter, in der Mitte die elektrische Schreibmaschine und rechts der Deckel der Papierschachtel, in dem sich die beschriebenen Seiten stapeln – im Moment sind es zwischen fünf und zehn Seiten, die man täglich füllt, und es sind Anekdoten aus der Schmugglerzeit, die man seiner großen Liebe zu lesen geben will.
Den Krieg erwähnt man nicht, der Krieg ist etwas, das man für sich behalten wollte, sicher weggeschlossen, zusammen mit dem
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