Drift
sich der ewige Teil seiner selbst, der jetzt, hier auf Erden in seinem Körper gefangen war, frei entfalten konnte, sondern er sah den Tod als einen zweiten Körper, den zu bewohnen er bisher außerstande gewesen war – schlicht, weil er ihn noch nicht kannte und in seinem jetzigen zu Hause war.
Martin musste lachen, als er einen Zug vom Gemisch auf der Alufolie nahm; würde er im anderen Körper total stoned ankommen oder ließ er die Drogen und den benebelten Geist mitsamt dem |309| alten Körper zurück? Müsste er nicht augenblicklich nüchtern sein in dem Moment, in dem die Kugel seine Schädeldecke durchschlug und die Hälfte seines Gehirns an die Wand hinter ihm klatschte? Mal sehen.
Er rauchte und sniffte und schüttete Tsingtao in sich hinein, die Uhr nie aus dem Blick verlierend, perfekt getimt: Nach dem letzten Rauch von der Folie nahm er die letzte Linie, rieb den Rest des Pulvers, der auf dem Tisch zurückblieb, mit dem Zeigefinger auf sein Zahnfleisch, trank den letzten Schluck aus dem letzten Fläschchen und schwebte schwerelos zum Bett, wo der Schnellzug mit der Stupsnase auf ihn wartete. Er setzte sich hin, legte das Couvert theatralisch in seinen Schoß, tätschelte es, steckte das Näschen des Schnellzugs in seinen Mund und sah auf die Uhr: Alles einsteigen, bitte! Der Sekundenzeiger hüpfte gegen die zwölf; Hahn spannen, fünf, vier, drei, zwei, eins: Whoa!
|310| GOLI OTOK
Martin sitzt auf dem Bug der Refula, einem zweiundvierzig Meter langen, modernen Einmaster. Er trinkt Bier aus der Dose und schaut sich das kroatische Alcatraz an, einen Fels mit Namen Goli Otok, die Nackte Insel. Sie ragt aus dem kristallenen Meer wie ein auf eine Glasplatte hingeschütteter Haufen Sand und Stein, was außer einem gut versteckten, alten Gefängniskomplex auch das einzige ist, was es auf der Insel zu finden gibt.
Die Bora, die sich an dieser Stelle mit ihren orkanartigen Böen ungehindert über die zur Erbauung Venedigs vollständig kahl geschlagenen Hänge des Velebit stürzt und seit der Abrodung jedes noch so mutige Grashälmchen ausreißt, das je den Versuch wagen sollte, ein Leben zwischen dem weißen Gestein führen zu wollen, ist abgeflaut und das blasse Rosa auf dem Stein weicht einem dunklen Grau und kündigt die totale Finsternis an, die sich langsam von hinten an das Schiff heranschleicht und schon in wenigen Minuten Berge, Meer und Insel verschlingen und Martin und seinen Begleitern einen perfekten Sternenhimmel schenken wird.
Gianni und Franco, die zwei jungen Segler, die Martin von der Werft zur Verfügung gestellt worden sind, um ihm alle Details des Schiffes zu erklären, schnorcheln zwischen den messerscharfen Felsen, während Martin versucht, sich den neunzehnjährigen Julien vorzustellen, wie er ganz oben auf dem Bergkamm sitzt und sich in einer klaren Vollmondnacht eine gestohlene Offizierspistole an die Schläfe hält und vor dem Hintergrund schwerer Maschinengewehr- und Panzergranatensalven, die die Luft zerreißen, mit seinem Schicksal hadert und wie ihm der Atem stockt angesichts der Tatsache, dass die einzigartige Schönheit und der Friede, die im Mondlicht vor ihm liegen, unter demselben Mond existieren dürfen wie der Krieg, der keine zwei Kilometer hinter ihm allein in jener Nacht Hunderte das Leben kosten wird.
|311| »Hoffnung«, hatte Julien bei einem ihrer ersten Treffen gesagt, »ist der Glaube an einen leider meist nur vorübergehenden Sinn im Leben. Und auch das nur, solange du nicht im Mondschein auf einem Berg gegenüber der Nackten Insel sitzt und hinter dir Granaten einschlagen hörst. Dann, mein Freund, ist nur noch Leere.«
Die beiden Segler reißen ihn aus seinen Gedanken. Sie spülen sich auf der Badeinsel am Heck des Schiffes im letzten Sonnenlicht das Salzwasser von den Körpern, und während sie sich abtrocknen, fragt Gianni, der ältere der beiden, ob Martin Lust auf Spaghetti mit frisch getauchten Muscheln habe.
»Ja«, sagt Martin. »Muscheln klingt gut.«
Er legt den Kopf zurück und schaut zum kleinen, grellweiß leuchtenden Lämpchen hinauf, das hundertsiebzig Fuß über ihm die Mastspitze anzeigt. Darüber die ersten Sterne im Abendhimmel.
Was seine Frau und seine kleine Tochter wohl gerade tun? Zehn Tage und geschätzte fünftausend Seemeilen, bis er sie wieder zu Gesicht bekommen wird; ab morgen ist kein Halt mehr vorgesehen, vierundzwanzig Stunden Segeln täglich, zehn Tage nonstop.
Beim Gedanken an seine Familie fühlt sich sein Kopf
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