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Drift

Drift

Titel: Drift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Gedanken, sie darum zu bitten, dass sie half, sein, beziehungsweise Juliens Buch zu veröffentlichen und dafür zu sorgen, dass dem Buch recht geschah. Seiner Arbeit – aber vor allem Juliens Geschichte wegen. Sie einfach darum bitten? No fucking way – nicht mal for ol’ times sake würde sie ja sagen. Er musste einen besseren Grund haben, ging ihm durch den Nebel auf. Und als er auf die Uhr sah, wurde ihm klar, dass er sich verkalkuliert hatte; die Entscheidung darüber, was mit dem Manuskript geschehen sollte – ob er es jemandem in die Hände geben oder mit ins Grab nehmen sollte, brauchte etwas Zeit, was wiederum bedeutete, dass er etwas tun musste, was er hasste: Er musste einen Kompromiss schließen. Und zwar mit sich selbst. Er brauchte mehr Zeit. Mehr Zeit, um herauszufinden, wie er vorgehen musste, |307| um Julien und dem eigenen Versprechen Julien gegenüber gerecht zu werden.
    Er widmete sich dem Kokain, sniffte Linie um Linie und langsam klarte der Nebel auf. Als etwa die Hälfte des verbleibenden Kokains in seinem linken Nasenloch verschwunden war, wusste er, was er tun würde: Er würde das Kartoncouvert, das groß genug war, um das dicke Manuskript zu fassen, auf dem Schoß haben, wie er es schon zuvor geplant hatte, aber er würde es nicht an Helena adressieren, sondern an seinen Agenten; alte Schule, ein Gentleman, ein Mann von Welt. Er würde wissen, was zu tun war.
    Martin beschriftete das Couvert, schrieb einen halbseitigen Brief und steckte ihn zusammen mit dem Manuskript in den Kartonumschlag; die letzte Frage vor seinem Abgang war beantwortet und Martin verschloss das Couvert, legte es aufs Bett und ging zurück zum Tisch, wo er das gesamte Koks und Heroin vermischte: Jetzt gab es nichts mehr, worüber er sich den Kopf zerbrechen musste, nichts mehr, was von ihm einen auch nur halbwegs geraden Gedanken verlangte – jetzt konnte er entspannt auf den Haufen hellbraunen Pulvers und seine Uhr schauen, die er daneben gelegt hatte, im Wissen, dass er den Fahrplan einhalten würde. Eine halbe Stunde, um etwas über ein Gramm Heroin-Kokain-Gemisch zu sniffen und zu rauchen und schließlich abzudrücken.
    Er schaufelte ein Häufchen von der Mischung in ein gebrauchtes Stück Alufolie und rauchte die schmelzenden Drogen; auch wenn die Wirkung von so gerauchtem Koks nicht annähernd an diejenige von mit Ammoniak vorbehandeltem Koks, also Base, heranreichte, so machte es doch Spaß, die Mischung zu rauchen: Sie fügte seinem bisherigen Flash und dessen grundsätzlich eher traurigen Abschiedssymphonie, der er mit dem kurzen Koks-pur-Exkurs eine zwar ebenso in Moll gehaltene, aber äußerst schnelle und harte Passage hinzugefügt hatte, einen neuen Akkord mit einer hymnischen Qualität hinzu, der die Symphonie mit einer Würze versah, die ihm die Härchen auf den Unterarmen aufstellte, aber auf das Strammstehen |308| folgend keine Schauderwelle der schwärzesten Melancholie das Rückgrat hinunterjagte, sondern die Härchen stehen, das Rückgrat sich strecken, straffen und erstarken und die Eingeweide gelöst, weich und harmonisch tanzen ließ; Martin hatte mehr Drogen vor sich liegen, als er unter den denkbar süchtigsten Umständen für die verbleibende halbe Stunde hätte brauchen können – und obwohl er sich verschwenderisch hätte aufführen können, behielt er den Rauch nach jedem Zug so lange wie möglich in der Lunge und ließ den Rest jetzt, da er die Frage nach dem Wohin mit Juliens Buch erfolgreich beantwortet hatte, sogar wieder mit einem Lächeln aus seiner Nase und seinen zu einem Spitzmund geformten Lippen entweichen – es war so weit.
    Er würde jetzt das tun, was von Priestern als Sünde, von einer Mehrheit der Weltbevölkerung als feige und von vielen als einfachste Lösung bezeichnet wurde. Aber seit er sich so konkret damit beschäftigte, sich umzubringen, dass die Fertigstellung von Juliens Buch die einzige Sache von Bedeutung war, hegte Martin dem Tod gegenüber, nun, seltsame Gefühle: Was früher trotz rationaler Relativierungsversuche immer mit Furcht behaftet war, hatte sich während der letzten Wochen zu etwas wie Freundschaft gewandelt und Martin sah den Tod, der nicht mehr zu einem unbekannten Zeitpunkt auf ihn wartete, sondern auf sein Kommando hin erscheinen würde, weniger als ein Etwas oder ein Jemand, der einen aus dieser Existenz entfernte, sondern er fühlte den Tod als eine andere Form seiner selbst. Nicht als einen anderen Ort oder eine andere Dimension, in der

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