Drift
mit der perfekten Aushöhlung; der Revolver war jetzt voll und um einiges schwerer.
Martin wog ihn mehrmals in der Hand; yep, so fühlte sich das Ganze schon viel eher nach Tod an und beinhaltete auch keinerlei Unsicherheiten mehr: Hahn spannen und abdrücken, fertig. Er hatte nicht die geringste Lust auf nervenzerreißendes Russischroulette, auch wenn er bezweifelte, dass ihn ein leeres »Klack« in seinem jetzigen Zustand groß aus der Fassung bringen würde; Martin war so dicht wie noch nie zuvor im Leben. Er hatte jedoch auch noch nie zuvor die Absicht gehabt, sich die Lichter auszublasen.
Jedes Mal, wenn er an die Endgültigkeit der bevorstehenden Handlung dachte, kamen ihm Zweifel, auch jetzt noch, keine Viertelstunde bevor es Zeit war.
Ach Helena, dachte er. Wenn du doch nur noch ein Mal den Hörer abnehmen und mich ein letztes Mal deine Stimme hören lassen würdest – vielleicht wäre die Kugel im Revolver für den Fernseher bestimmt, wie das Ricochet der anderen, die unabsichtlich losging und ein Loch in unsere Decke machte. Unsere Decke. Wie vermisse ich »uns«: unsere Gespräche, unser Lachen, unsere Zärtlichkeiten. Ich kann so nicht, Helena, ich kann nicht weiterleben ohne dich. |305| Das ist kein Leben, nicht mal Überleben ist das. Ein hilfloses Stolpern von einem Tag in den nächsten, verfolgt von Träumen, die sich wie Kletten an mich heften und nicht loslassen, bis ich eine Flasche Whisky und zig Biere getrunken habe.
Wie kann es dir gutgehen?
Wie kannst du weiterleben?
Bestimmt hast du jemanden gefunden. Hast mich ersetzt, wie ein Möbelstück, das nicht in deine neue Wohnung passt.
Ich träume davon, wie ich euch abpasse. Und wie ich im Verlauf des Gesprächs, in dem dein Neuer den Helden spielen und mich körperlich entfernen wollen wird, den Revolver ziehe und ihn in den Oberschenkel schieße. Ich träume das auch, wenn ich hellwach bin, glaube fest daran, dass es ein Liebesbeweis wäre, diesen Typ, der nichts weiter als ein Ersatz für die einzige Liebe in deinem Leben ist, übern Haufen zu schießen und dafür ins Gefängnis zu wandern. Aber dann wird mir klar, dass ich im Gefängnis noch weiter von dir weg wäre, als ich es jetzt schon bin, und der Angeschossene dein Held und ich das Schwein.
Wenn es doch nur einen Weg gäbe, dich zurückzugewinnen.
Aber diesen Weg gab es offenbar nicht mehr; Helena hatte sich gegen ihn entschieden, um selbst einen Weg zu haben, und sämtliche Zeit, die sie weiter zusammengelebt hätten, wäre ein Betrug an ihnen beiden und ihrer ursprünglichen Liebe gewesen: Er konnte nicht damit leben, sie leiden zu sehen und dabei zu wissen, dass er der Grund für ihr Leiden war – sie konnte nicht tatenlos dabei zusehen, wie er sich selbst und in der Konsequenz auch sie, die durch ihre Liebe an ihn gebunden war, zugrunde richtete; ein halbes Jahr lang hatte er sich, so wie man sich einen Goldfisch hält, die Illusion gehalten, dass sie vielleicht doch wieder zusammenkommen würden, aber er hatte während der ganzen Zeit auch gewusst, dass es sich dabei um eine Illusion handelte und er sich irgendwann das Futter nicht mehr würde leisten können.
»Du wirst dich nie ändern, Martin«, waren ihre Worte gewesen, |306| »und ich mich auch nicht. Wenn wir leben wollen, müssen wir uns trennen. Wenn ich auf mein Seelenheil achten will, muss ich dich vergessen. Und auch wenn das in deinem heroinverklebten Gehirn im Moment keinen Sinn macht; es ist auch für dich die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben. Wie lange hättest du es noch ertragen, mir dabei zuzusehen, wie ich deinetwegen zugrunde gehe? Du bist kein Monster, Martin, im Gegenteil. Ich kenne dich. Früher oder später wärst du hingegangen und hättest dich umgebracht. Ich wäre nach Hause gekommen und hätte die Sauerei vorgefunden. Am allerwahrscheinlichsten hättest du dich mit diesem kleinen Scheißding umgebracht. Ich wäre nach Hause gekommen und hätte dich irgendwo in einer Blutlache gefunden und mein armer Hund wäre vermutlich blutverschmiert auf mich zugerannt gekommen und hätte mich angesprungen, damit ich ihm helfen komme. Aber ein Versuch, dir dann noch zu helfen, wäre genauso sinnvoll gewesen wie all meine Versuche während der sechs Jahre unseres Zusammenlebens. Du hast keine Hilfe zugelassen, Martin. Und uns dadurch kaputtgemacht.«
Sie hatte recht, wie sie immer recht gehabt hatte, wenn es um seine Sucht, seine Hilflosigkeit diesbezüglich ging. Und jetzt spielte er mit dem
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