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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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und ab, von Unruhe und Unbehagen getrieben. Ich
musste dringend mit Lonnie reden, sah aber keine Möglichkeit, es sei denn, ich
nahm die Stunde Fahrt nach Santa Maria auf mich. Ida Ruth meinte, jede Störung
würde ihn nur auf die Palme bringen, aber er musste doch wohl erfahren, was
hier ablief. Sein Fall war ein einziges Chaos, und ich sah nicht, wie ich es
sortieren sollte, ehe er wiederkam. Er würde gar nicht gut auf mich zu sprechen
sein.
    Wir hatten jetzt Donnerstagnachmittag.
Morleys Beerdigung war für Freitag angesetzt, und wenn ich Zweifel an der
Todesursache anmelden wollte, musste ich mich beeilen. Wenn sie ihn erst einmal
unter der Erde hatten, würde die ganze Angelegenheit mit begraben. Da auf eine
natürliche Todesursache erkannt worden war, hatte sich vermutlich niemand die
Mühe gemacht, seine letzten Lebenstage zu rekonstruieren. Ich hatte immer noch
keine Ahnung, wo er gewesen war und wen er getroffen hatte. Ich wusste nur,
dass er die Fotos gemacht hatte. Ich ging davon aus, dass ihn das Gespräch mit
David Barney darauf gebracht hatte, aber sicher war auch das nicht. Vielleicht
hatte er ja mit Dorothy oder Louise über den Fall geredet.
    Ich rief bei den Morleys an. Louise
nahm beim ersten Läuten ab. »Hi, Louise. Hier ist Kinsey. Haben Sie die Tasche
gefunden?«
    »Ja, vielen Dank. Tut mir Leid, dass
wir nicht da waren, aber Dorothy wollte zum Bestattungsinstitut, um Morley noch
einmal zu sehen. Als wir heimkamen, haben wir gleich gemerkt, dass Sie da
waren.«
    »Wie hält sich Dorothy?«
    »Den Umständen entsprechend ganz gut.
Sie ist ein ganz schön zähes altes Hühnchen. Das sind wir beide, wenn’s darauf
ankommt.«
    »Ähm, hören Sie, Louise, ich weiß, es
ist lästig, aber könnte ich vielleicht heute Nachmittag kurz mit Ihnen beiden
reden?«
    »Worüber?«
    »Das möchte ich Ihnen wirklich lieber
persönlich sagen. Kann Dorothy einen kurzen Besuch verkraften?«
    Ich hörte sie zögern.
    »Es ist wichtig«, sagte ich.
    »Augenblick. Ich frage nach.« Sie legte
die Hand über die Sprechmuschel, und ich hörte leises Gemurmel. Dann war sie
wieder da. »Wenn Sie’s kurz machen können«, sagte sie.
    »Ich bin in fünfzehn Minuten da.«
    Zum dritten Mal in zwei Tagen fuhr ich
hinaus nach Colgate zu Morleys Haus. Die Frühnachmittagssonne kam gerade durch.
Dezember und Januar sind bei uns wirklich die besten Monate. Im Februar ist es
manchmal ziemlich regnerisch und meistens grau. Der Frühling in Santa Teresa
ist wie der Frühling überall im Land. Im Frühsommer hüllt uns ständiger Nebel
ein, so dass die Tage mit einem hellen Weiß-Grau beginnen und mit einem
merkwürdig goldenen Licht enden. Bisher war dieser Dezember eine gelungene
Mischung gewesen, ein täglicher sprunghafter Wechsel zwischen Frühling und
Sommer.
    Louise machte mir auf und führte mich
ins Wohnzimmer, wo Dorothy, auf das Sofa gebettet, wartete.
    »Ich werde uns eine Kanne Tee machen«,
murmelte Louise. Sie entschuldigte sich und ging hinaus. Kurz darauf hörte ich
Geschirr klappern.
    Dorothy war noch in Rock und Pullover
von ihrem Besuch im Bestattungsinstitut. Sie hatte keine Schuhe an, und ihre
Beine waren in eine wärmende Decke gehüllt. Ein schmaler Fuß, so fragil wie
Porzellan, guckte heraus. Vielleicht hatten sie und Louise ja mehr wie
Schwestern ausgesehen, ehe die Krankheit ihr alle Farbe aus dem Gesicht gesogen
hatte. Beide waren feinknochig, mit blauen Augen und zarter Haut. Dorothy trug
eine platinblonde Perücke in der Art einer nachlässigen Schlafzimmerfrisur. Sie
fing meinen Blick auf und griff sich lächelnd an den derangierten Dutt, um ihn
ein wenig zu justieren. »Ich wollte schon immer blond sein«, sagte sie
wehmütig. Dann streckte sie mir die Hand hin. »Sie sind also Kinsey Millhone.
Morley hat mir viel von Ihnen erzählt.« Wir begrüßten uns. Ihre Hand war leicht
und kalt und ledrig wie eine Vogelklaue.
    »Morley hat von mir gesprochen?«, sagte
ich überrascht.
    »Er hat immer gemeint, Sie könnten es
weit bringen, wenn Sie nur lernen würden, Ihre Zunge im Zaum zu halten.«
    Ich lachte. »Das gelingt mir immer noch
nicht ganz, aber es freut mich. Ich habe es immer bedauert, dass er und Ben
ihre Differenzen nicht ausräumen konnten.«
    »Dafür waren sie beide viel zu
dickschädlig«, sagte sie mit gespielter Empörung. »Morley wusste gar nicht
mehr, worüber sie sich eigentlich gestritten hatten. Setzen Sie sich doch.
Louise wird uns gleich eine Tasse Tee bringen.«
    Ich wählte

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