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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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und Röte
stieg ihr ins Gesicht. »Ich will einen Anwalt.«
    »Warum erzählen Sie mir nicht Ihre
Seite der ganzen Geschichte. Ich würde sie gern hören.«
    »Ich habe Ihnen nichts zu erzählen«,
sagte sie. »Sie können mich nicht zwingen, auch nur ein einziges Wort zu sagen,
solange ich keinen Anwalt dabei habe. Das steht im Gesetz.« Sie lehnte sich
zurück und verschränkte die Arme.
    Ich grinste und verdrehte spöttisch die
Augen. »Nein, tut es nicht. Das steht im Miranda- Urteil. Die Polizei
muss sich daran halten. Ich nicht. Ich bin Privatdetektivin. Für mich gelten
andere Spielregeln. Kommen Sie schon, erzählen Sie mir, was los war. Das wird
Ihnen gut tun.«
    »Wieso sollte ich Ihnen irgendetwas
erzählen? Ich kann Sie nicht leiden.«
    »Lassen Sie mich raten. Sie wohnten
damals bei Ihrem Vater, und er war nicht zu Hause, und dann riefen ein paar
Freunde an und wollten unbedingt noch etwas unternehmen. Da haben Sie sich den
Lieferwagen ausgeliehen und sie abgeholt, und dann sind Sie zu dritt oder viert
oder wie vielen auch immer noch ein bisschen herumgezogen, an den Strand, mit
ein paar Sechserpacks. Und plötzlich war es Mitternacht, und Ihnen wurde klar,
dass Sie sich beeilen mussten, um vor Ihrem Vater zu Hause zu sein. Also haben
Sie die anderen heimgefahren. Und als Sie dann selbst nach Hause gebraust sind,
haben Sie diesen Mann angefahren. Sie sind in Panik davongerast, weil Sie
wussten, sie säßen ganz schön in der Tinte, wenn Sie geschnappt würden. Na, wie
ist das? Einigermaßen korrekt?«
    Ihr Gesicht war immer noch steinern,
aber ich konnte sehen, dass sie gegen die Tränen ankämpfte und sich verzweifelt
bemühte, ihre Lippen am Zittern zu hindern.
    »Hat Ihnen jemals jemand etwas über den
Mann erzählt, den Sie erwischt haben? Er hieß Noah McKell. Er war zweiundneunzig
und wohnte in einem Pflegeheim, ein Stück weiter die Straße hinauf. Ihn hatte
offenbar die Wanderlust gepackt. Sein Sohn meint, er wollte vermutlich nach Hause.
Ist das nicht rührend? Der arme alte Kerl hatte vorher in San Francisco
gewohnt. Er dachte wohl, er sei immer noch dort, und machte sich Sorgen um
seine Katze. Anscheinend hatte er vergessen, dass die Katze schon seit Jahren
tot war. Er wollte nach Hause, um sie zu füttern, ist aber nie angekommen.«
    Sie legte einen Finger auf ihre Lippen,
als wollte sie sie verschließen. Die Tränen begannen zu fließen. »Ich habe ja
versucht, mich zu bessern. Ehrlich. Ich war bei den AA und alles und habe ganz
neu angefangen.«
    »Das haben Sie, und das ist toll. Aber
ab und zu muss sich doch in Ihrem tiefsten Inneren eine Stimme melden, oder
nicht? Und irgendwann werden Sie wieder anfangen zu trinken, nur um diese
Stimme zum Schweigen zu bringen.«
    Ihr Ton glitt jetzt ins Kieksige ab. »O
Gott, es tut mir Leid. Wirklich. Es tut mir so Leid. Es war ein Unfall. Ich wollte
es nicht.« Sie umschlang sich selbst mit den Armen, krümmte sich und schluchzte
laut wie ein Kind, das sie ja auch war. Ich sah sie voller Mitleid an, machte
aber keinen Versuch, sie zu trösten. Es war nicht mein Job, das Leben leichter
zu machen. Sollte sie doch die Reue spüren, den ganzen Schmerz, die
Schuldgefühle. Ich wusste nicht, ob sie die Sache je in ihrer vollen Tragweite
an sich herangelassen hatte. Die Tränen kamen in unkontrollierbaren Wellen,
heftige, tiefe Schluchzer, die sie von Kopf bis Fuß zu schütteln schienen. Sie
klang eher wie ein heulendes wildes Tier als wie ein von Scham überwältigtes
junges Mädchen. Ich ließ es geschehen, kaum fähig, sie anzusehen, bis ihr
Schmerz etwas nachließ. Schließlich legte sich der Sturm, wie ein hysterischer
Lachanfall, der allmählich verebbt. Sie kramte in ihrer Handtasche herum und
zog einen Packen Papiertaschentücher heraus. Sie nahm eines, um sich die Augen
zu wischen und die Nase zu schnäuzen. »Mein Gott.« Sie umkrallte die
Taschentücher und presste sie gegen ihren Mund. Fast wäre sie wieder in Tränen
ausgebrochen, aber sie fing sich. »Ich habe seit der Nacht damals keinen
Tropfen Alkohol mehr angerührt. Das war hart.« Jetzt verfiel sie in
Selbstmitleid, vielleicht in der Hoffnung auf Mitgefühl, Erbarmen oder Gnade.
    »Das war es sicherlich«, sagte ich,
»und ich kann nur sagen: Hut ab. Sie haben schwere Arbeit geleistet. Jetzt ist
es an der Zeit, die Wahrheit zu sagen. Sie können nicht einfach alles wegpacken
und erwarten, dass eine echte Heilung eintritt.«
    »Sie brauchen mir keine Vorträge zu
halten.«
    »Offenbar

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