Drop City
deshalb müssen wir heute abend auf den Putz hauen und eine zeremonielle Superfete abgehen lassen. Nichts Besonderes – Linsensuppe, Reis und Gemüse. Und Wein. Wunderbarer Rotwein.« Er nahm noch einen Zug von seinem Bier und blickte ins Zwielicht der Bäume.
»Wollt ihr heute hier übernachten?«
Der Neffe zuckte die Achseln. Seine Schultern waren in dem offenen Overall nackt, behaart und von Moskitostichen übersät. »Sicher doch. Wieso nicht?«
»Aber Roys Hütte ...« Sess zögerte. Wie konnte er ihm auch nur ansatzweise die Komplexität des Lebens hier vermitteln: in dem so lange herrenlosen Blockhaus würden allenfalls fünf oder sechs Personen Platz finden, der tückische Yukon River mit seinen Massen an Schlick konnte einem im Handumdrehen die Klamotten bleischwer machen und einen in die Tiefe reißen, wenn man ihm auch nur die klitzekleinste Chance gab, und es fehlten einfach die primitivsten Annehmlichkeiten. Was wollten denn all diese Leute essen? Wo würden sie ihre rosa Lippenstifte herbekommen, woher das Make-up, den Rotwein, ihre Aufputschmittel und Beruhigungsmittel und ihr Gras und was sie sonst noch nahmen? Und wollte er überhaupt Nachbarn haben, über dreißig gleich, die praktisch in Rufweite seiner Fallenstrecke am Fluß lebten?
»Das ist ziemlich weit«, bemerkte Pamela. »Mindestens drei Stunden von hier, im Kanu.«
Der Neffe reckte das Kinn und ließ es wieder sinken. Seine Hand erinnerte an eine große umherflatternde Motte, als er jetzt das Bier an die Lippen hob. »Oh, ich bin informiert, keine Sorge«, sagte er. »Ich weiß noch, wo das ist, obwohl es doch immerhin schon – Scheiße, Mann – zwanzig Jahre her ist. O Mann, zwanzig Jahre , ist das zu fassen?« Er lachte leise, die bleichen Schultern wackelten unter einer mächtigen Fettschicht, und der heruntergerutschte rechte Träger seines Overalls legte eine dreifarbige Tätowierung frei – irgendeine Zeichentrickfigur, aber welche? Walt Disney jedenfalls. Ein x-beiniges Rehkitz mit übergroßen Augen. Das Bild rauschte mitten aus der Kindheit auf Sess ein: seine Mutter im rosa Kleid, die Schwester mit der Hand tief in einer Schachtel mit extra gebuttertem Popcorn – Bambi. Der Mann trug Bambi auf der Schulter eintätowiert. So etwas hatte Sess noch nie gesehen. Er kannte Anker, Dolche, Totenschädel, von Pfeilen durchbohrte, bluttriefende Herzen, blaßblaue Namenszüge von Ehefrauen, Geliebten und Exgeliebten, einen Adler mit einem Fisch in den Klauen – aber Bambi ?
»Ich bin ja kein Greenhorn«, sagte der Neffe, »und ich kann dir sagen, daß ich zumindest ein Fünkchen Ahnung von diesem Land hier habe, weil ich nämlich als Kind immerhin drei Sommer und beinahe zwei Winter bei meinem Onkel verbracht habe – was natürlich keinesfalls bedeuten soll, daß ich nicht noch eine Menge zu lernen hätte, Mann, ja? Denn das muß ich. Aber wir haben auf unserem Bus drei Kanus« – hier wandte Sess den Kopf und betrachtete den großen gelben Kasten auf Rädern, wobei er mitten in die knochigen, schlitzäugigen Gesichter von zwei Ziegen starrte, die ihrerseits als Vorlage für Cartoonfiguren hätten dienen können –, »und ich hab mit diesem Buschpiloten ausgemacht – Joe Bosky, kennst du den? –, daß er unsere Leute samt Proviant in drei Ladungen rüberbefördert, darunter auch das Werkzeug und was eben so der Grundbedarf ist, denn diese Leute da, also meine Brüder und Schwestern, die müssen das ja erst mal alles schnallen , verstehst du mich? Ich meine, die glauben vielleicht noch, das wird hier ein Zuckerschlecken, aber ich weiß es besser ...«
Der Neffe redete noch eine Zeitlang weiter, und Sess und Pamela blieben vor ihm stehen, als wären sie in einem Hörsaal, nur daß sie ständig nach Moskitos schlugen und an ihren Bierflaschen nuckelten, während die abgehackte, blecherne Musik auf sie herabregnete und die magere Blondine mit dem rosa Lippenstift über sie herfiel, dem Neffen die Arme um den Hals schlang und sich an ihm festhielt, als wäre er eine Boje im Strudel dunkler Gewässer. »Also, was ich mir gerade gedacht hab«, sagte der Neffe mit einem gewissen Abschiedstonfall in der Stimme, »vielleicht sollten wir irgendwo am Flußufer eine Rast einlegen und heute nacht campieren, oder vielleicht gleich ein paar Nächte ...«
Campieren, wo denn? wollte Sess ihn gerade fragen, denn es gab keinen einzigen Quadratmeter freies Gelände am Flußufer, das nicht seit langem irgendwem gehörte. In ganz Boynton
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