Drop City
empfand er nämlich nicht viel anders, als wenn er irgendein Vieh erledigt hätte, das mit gebrochenem Rückgrat in einer von seinen Baum- oder Schnappfallen saß, die eigentlich für eine größere Beute gedacht waren. Tod in Sekunden statt erst nach Stunden – das war Gnade und Menschlichkeit, selbst an einem Ort, an dem man so etwas eigentlich nicht erwartete. Doch er tat es nicht. Ein Einschuß hätte Erklärungen erfordert, und diese Erklärungen würden eine lange Spur von Lügen und Ausflüchten nach sich ziehen, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Und dann noch etwas: Bosky verdiente keine Kugel – die hob er sich besser für den stinkendsten Skunk auf, für Stachelschweine und die fetten Ratten des Sommers. Schließlich hatte Sess, nachdem er Boskys letzte Worte vernommen hatte, dem Mann schlicht den Rücken gekehrt, und darüber gab es auch keine Diskussion mit Marco – er war nicht in Stimmung zum Diskutieren. Und für demokratische Entscheidungen ebensowenig. Die beiden hatten sich einfach vom Feuer, von dem Flugzeugwrack, von der Leiche des einen und dem langsam gefrierenden Körper des anderen entfernt, und am Morgen waren sie zurückgekehrt, um die Toten aufzuladen und nach Boynton zu bringen. »Hör mal«, sagte er zu Marco, »gibt keinen Grund, irgendwelche Einzelheiten zu erwähnen. Das Flugzeug ist abgestürzt, damit hat sich’s, und wir haben die Leichen gefunden.«
Damit war die Sache erledigt. Und obwohl er sich noch nie am Tod eines anderen Menschen – oder überhaupt einer Kreatur – ergötzt hatte, mußte er sich eingestehen, daß für ihn Weihnachten diesmal etwas früh gekommen war. Irgend jemand, ein verhutzeltes, verheultes Elternteil, eine Tante oder ein zwielichtiger Bruder, würde sicher im Frühling aufkreuzen, um aus dem Blockhaus am Woodchopper Creek ein paar Dinge von sentimentalem Wert abzuschleppen, und danach würde die Hütte leerstehen, wer sie haben wollte, konnte sie beziehen, aber es würde sich niemand finden. Im Laufe der Jahre würden die Dachbalken verrotten, die Soden der Schwerkraft nachgeben, die Wände einstürzen, die Dielen durchkrachen. Im Kaminrohr würden Vögel ihre Nester bauen, Mäuse in den Schubladen Junge kriegen. Und eines Tages, irgendwann in der Kälte des nächsten Winters, würde sich ein Wolf auf das Gelände stehlen, die letzte schwache Witterung von Bosky, Pan und Sky Dog aufnehmen und kurzerhand ein Bein heben, um diese Witterung auszulöschen.
Sess kam damit klar, es war die natürliche Ordnung der Dinge. Er hatte den kalten Wind im Gesicht. Am Himmel spielte das Polarlicht und trieb die Wolken in die Flucht. Der Schnee flüsterte unter seinen Schuhen, sprach zu ihm, sang zu ihm im Rhythmus der Nacht. Er war unterwegs nach Hause, er stand auf den Schlittenkufen und atmete ganz ruhig, ein Mann im warmen Pelz, vor sich ein Hundegespann, in einer rauhen, wilden Gegend, und er war unterwegs nach Hause zu seiner Frau.
Der Autor
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, unterrichtet an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Willkommen in Wellville (Roman, 1993), América (Roman, 1996), Riven Rock (Roman, 1998), Fleischeslust (Erzählungen, 1999), Ein Freund der Erde (Roman, 2001), Schluß mit cool (Erzählungen, 2002), Drop City (Roman, 2003), Dr. Sex (Roman, 2005), Talk Talk (Roman, 2006), Zähne und Klauen (Erzählungen, 2008), Die Frauen (Roman, 2009) und Das wilde Kind (Erzählung, 2010).
Daten, Fakten, Jahreszahlen
1948 geboren in Peekskill, New York
T.C. Boyle wuchs in schwierigen Familienverhältnissen auf.
Nach ausschweifenden Jugendjahren in der Hippie- und Protestbewegung der 60er Jahre war Boyle Lehrer an der High School in Peekskill und publizierte während dieser Zeit seine ersten Kurzgeschichten in namhaften Zeitschriften.
Heute lebt er mit seiner Frau und drei Kindern in Kalifornien und unterrichtet an der University of Southern California „Creative Writing“.
Bibliographie
Im Carl Hanser Verlag sind erschienen
1989 World’s End. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1991 Wenn der Fluß voll Whiskey wär. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1992 Der Samurai von Savannah. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1993 Willkommen in Wellville. Roman. Aus dem Amerikanischen von Anette Gruber
1995 Tod durch Ertrinken. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Anette Gruber
1996 América. Roman. Aus dem
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