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Drucke zu Lebzeiten

Drucke zu Lebzeiten

Titel: Drucke zu Lebzeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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darüber zu lachen, wäre
    Pflichtverletzung; es ist das Äußerste an Boshaigkeit,
    was die Boshaesten unter uns Josefine zufügen, wenn
    sie manchmal sagen: „Das Lachen vergeht uns, wenn
    wir Josefine sehn.“
    
    So sorgt also das Volk für Josefine in der Art eines
    Vaters, der sich eines Kindes annimmt, das sein Händ-
    chen – man weiß nicht recht, ob bittend oder fordernd –
    nach ihm ausstreckt. Man sollte meinen, unser Volk tau-
    ge nicht zur Erfüllung solcher väterlicher Pflichten, aber 
    in Wirklichkeit versieht es sie, wenigstens in diesem Fal-
    le, musterha; kein Einzelner könnte es, was in dieser
    Hinsicht das Volk als Ganzes zu tun imstande ist. Frei-
    lich, der Kraunterschied zwischen dem Volk und dem
    Einzelnen ist so ungeheuer, es genügt, daß es den 
    Schützling in die Wärme seiner Nähe zieht, und er ist
    beschützt genug. Zu Josefine wagt man allerdings von
    solchen Dingen nicht zu reden. „Ich pfeife auf eueren
    Schutz“, sagt sie dann. „Ja, ja, du pfeifst“, denken wir.
    Und außerdem ist es wahrhaig keine Widerlegung, 
    wenn sie rebelliert, vielmehr ist das durchaus Kindesart
    und Kindesdankbarkeit, und Art des Vaters ist es, sich
    nicht daran zu kehren.
    Nun spricht aber doch noch anderes mit herein, das
    schwerer aus diesem Verhältnis zwischen Volk und Jose- 
    fine zu erklären ist. Josefine ist nämlich der gegenteiligen
    Meinung, sie glaubt, sie sei es, die das Volk beschütze.
    [  ]
    Aus schlimmer politischer oder wirtschalicher Lage
    rettet uns angeblich ihr Gesang, nichts weniger als das
    bringt er zuwege, und wenn er das Unglück nicht ver-
    treibt, so gibt er uns wenigstens die Kra, es zu ertragen.
     Sie spricht es nicht so aus und auch nicht anders, sie
    spricht überhaupt wenig, sie ist schweigsam unter den
    Plappermäulern, aber aus ihren Augen blitzt es, von ih-
    rem geschlossenen Mund – bei uns können nur wenige
    den Mund geschlossen halten, sie kann es – ist es abzule-
     sen. Bei jeder schlechten Nachricht – und an manchen
    Tagen überrennen sie einander, falsche und halbrichtige
    darunter – erhebt sie sich sofort, während es sie sonst
    müde zu Boden zieht, erhebt sich und streckt den Hals
    und sucht den Überblick über ihre Herde wie der Hirt
     vor dem Gewitter. Gewiß, auch Kinder stellen ähnliche
    Forderungen in ihrer wilden, unbeherrschten Art, aber
    bei Josefine sind sie doch nicht so unbegründet wie bei
    jenen. Freilich, sie rettet uns nicht und gibt uns keine
    Kräe, es ist leicht, sich als Retter dieses Volkes aufzu-
     spielen, das leidensgewohnt, sich nicht schonend, schnell
    in Entschlüssen, den Tod wohl kennend, nur dem An-
    scheine nach ängstlich in der Atmosphäre von Tollkühn-
    heit, in der es ständig lebt, und überdies ebenso frucht-
    bar wie wagemutig – es ist leicht, sage ich, sich nachträg-
     lich als Retter dieses Volkes aufzuspielen, das sich noch
    immer irgendwie selbst gerettet hat, sei es auch unter
    Opfern, über die der Geschichtsforscher – im allgemei-
    [  ]
    nen vernachlässigen wir Geschichtsforschung gänzlich –
    vor Schrecken erstarrt. Und doch ist es wahr, daß wir
    gerade in Notlagen noch besser als sonst auf Josefinens
    Stimme horchen. Die Drohungen, die über uns stehen,
    machen uns stiller, bescheidener, für Josefinens Befehls- 
    habern gefügiger; gern kommen wir zusammen, gern
    drängen wir uns aneinander, besonders weil es bei einem
    Anlaß geschieht, der ganz abseits liegt von der quälen-
    den Hauptsache; es ist, als tränken wir noch schnell – ja,
    Eile ist nötig, das vergißt Josefine allzuo – gemeinsam 
    einen Becher des Friedens vor dem Kampf. Es ist nicht
    so sehr eine Gesangsvorführung als vielmehr eine Volks-
    versammlung, und zwar eine Versammlung, bei der es
    bis auf das kleine Pfeifen vorne völlig still ist; viel zu
    ernst ist die Stunde, als daß man sie verschwätzen wollte. 
    Ein solches Verhältnis könnte nun freilich Josefine gar
    nicht befriedigen. Trotz all ihres nervösen Mißbehagens,
    welches Josefine wegen ihrer niemals ganz geklärten
    Stellung erfüllt, sieht sie doch, verblendet von ihrem
    Selbstbewußtsein, manches nicht und kann ohne große 
    Anstrengung dazu gebracht werden, noch viel mehr zu
    übersehen, ein Schwärm von Schmeichlern ist in diesem
    Sinne, also eigentlich in einem allgemein nützlichen Sin-
    ne, immerfort tätig, – aber nur

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