Drucke zu Lebzeiten
ununterscheidbar in ihrer
Menge und Eile, rosig vor Glück. Freilich, wie schön
dies auch sein mag und wie sehr uns andere darum auch
mit Recht beneiden mögen, eine wirkliche Kinderzeit
können wir eben unseren Kindern nicht geben. Und das
hat seine Folgewirkungen. Eine gewisse unerstorbene,
unausrottbare Kindlichkeit durchdringt unser Volk; im
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geraden Widerspruch zu unserem Besten, dem untrügli-
chen praktischen Verstande, handeln wir manchmal ganz
und gar töricht, und zwar eben in der Art, wie Kinder
töricht handeln, sinnlos, verschwenderisch, großzügig,
leichtsinnig und dies alles o einem kleinen Spaß zulie-
be. Und wenn unsere Freude darüber natürlich nicht
mehr die volle Kra der Kinderfreude haben kann, et-
was von dieser lebt darin noch gewiß. Von dieser Kind-
lichkeit unseres Volkes profitiert seit jeher auch Josefine.
Aber unser Volk ist nicht nur kindlich, es ist gewisser-
maßen auch vorzeitig alt, Kindheit und Alter machen
sich bei uns anders als bei anderen. Wir haben keine
Jugend, wir sind gleich Erwachsene, und Erwachsene
sind wir dann zu lange, eine gewisse Müdigkeit und
Hoffnungslosigkeit durchzieht von da aus mit breiter
Spur das im ganzen doch so zähe und hoffnungsstarke
Wesen unseres Volkes. Damit hängt wohl auch unsere
Unmusikalität zusammen; wir sind zu alt für Musik,
ihre Erregung, ihr Aufschwung paßt nicht für unsere
Schwere, müde winken wir ihr ab; wir haben uns auf das
Pfeifen zurückgezogen; ein wenig Pfeifen hie und da,
das ist das Richtige für uns. Wer weiß, ob es nicht Mu-
siktalente unter uns gibt; wenn es sie aber gäbe, der
Charakter der Volksgenossen müßte sie noch vor ihrer
Entfaltung unterdrücken. Dagegen mag Josefine nach
ihrem Belieben pfeifen oder singen oder wie sie es nen-
nen will, das stört uns nicht, das entspricht uns, das
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können wir wohl vertragen; wenn darin etwas von Mu-
sik enthalten sein sollte, so ist es auf die möglichste
Nichtigkeit reduziert; eine gewisse Musiktradition wird
gewahrt, aber ohne daß uns dies im geringsten beschwe-
ren würde.
Aber Josefine bringt diesem so gestimmten Volke
noch mehr. Bei ihren Konzerten, besonders in ernster
Zeit, haben nur noch die ganz Jungen Interesse an der
Sängerin als solcher, nur sie sehen mit Staunen zu, wie
sie ihre Lippen kräuselt, zwischen den niedlichen Vor-
derzähnen die Lu ausstößt, in Bewunderung der Töne,
die sie selbst hervorbringt, erstirbt und dieses Hinsinken
benützt, um sich zu neuer, ihr immer unverständlicher
werdender Leistung anzufeuern, aber die eigentliche
Menge hat sich – das ist deutlich zu erkennen – auf sich
selbst zurückgezogen. Hier in den dürigen Pausen zwi-
schen den Kämpfen träumt das Volk, es ist, als lösten
sich dem Einzelnen die Glieder, als düre sich der Ruhe-
lose einmal nach seiner Lust im großen warmen Bett des
Volkes dehnen und strecken. Und in diese Träume klingt
hie und da Josefinens Pfeifen; sie nennt es perlend, wir
nennen es stoßend; aber jedenfalls ist es hier an seinem
Platze, wie nirgends sonst, wie Musik kaum jemals den
auf sie wartenden Augenblick findet. Etwas von der ar-
men kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem,
nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom
tätigen heutigen Leben ist darin, von seiner kleinen, un-
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begreiflichen und dennoch bestehenden und nicht zu
ertötenden Munterkeit. Und dies alles ist wahrhaig
nicht mit großen Tönen gesagt, sondern leicht, flüsternd,
vertraulich, manchmal ein wenig heiser. Natürlich ist es
ein Pfeifen. Wie denn nicht? Pfeifen ist die Sprache unse-
res Volkes, nur pfei mancher sein Leben lang und weiß
es nicht, hier aber ist das Pfeifen freigemacht von den
Fesseln des täglichen Lebens und befreit auch uns für
eine kurze Weile. Gewiß, diese Vorführungen wollten
wir nicht missen.
Aber von da bis zu Josefinens Behauptung, sie gebe
uns in solchen Zeiten neue Kräe usw. usw. ist noch ein
sehr weiter Weg. Für gewöhnliche Leute allerdings,
nicht für Josefinens Schmeichler. „Wie könnte es anders
sein“ – sagen sie in recht unbefangener Keckheit – „wie
könnte man anders den großen Zulauf, besonders unter
unmittelbar drängender Gefahr, erklären, der schon
manchmal sogar die genügende, rechtzeitige Abwehr
eben dieser Gefahr
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