Drucke zu Lebzeiten
nebenbei, unbeachtet, im
Winkel einer Volksversammlung zu singen, dafür würde
sie, trotzdem es an sich gar nicht wenig wäre, ihren Ge-
sang gewiß nicht opfern.
[ ]
Aber sie muß es auch nicht, denn ihre Kunst bleibt
nicht unbeachtet. Trotzdem wir im Grunde mit ganz
anderen Dingen beschäigt sind und die Stille durchaus
nicht nur dem Gesänge zuliebe herrscht und mancher
gar nicht aufschaut, sondern das Gesicht in den Pelz des
Nachbars drückt und Josefine also dort oben sich ver-
geblich abzumühen scheint, dringt doch – das ist nicht
zu leugnen – etwas von ihrem Pfeifen unweigerlich auch
zu uns. Dieses Pfeifen, das sich erhebt, wo allen anderen
Schweigen auferlegt ist, kommt fast wie eine Botscha
des Volkes zu dem Einzelnen; das dünne Pfeifen Josefi-
nens mitten in den schweren Entscheidungen ist fast wie
die armselige Existenz unseres Volkes mitten im Tumult
der feindlichen Welt. Josefine behauptet sich, dieses
Nichts an Stimme, dieses Nichts an Leistung behauptet
sich und scha sich den Weg zu uns, es tut wohl, daran
zu denken. Einen wirklichen Gesangskünstler, wenn ei-
ner einmal sich unter uns finden sollte, würden wir in
solcher Zeit gewiß nicht ertragen und die Unsinnigkeit
einer solchen Vorführung einmütig abweisen. Möge Jo-
sefine beschützt werden vor der Erkenntnis, daß die Tat-
sache, daß wir ihr zuhören, ein Beweis gegen ihren Ge-
sang ist. Eine Ahnung dessen hat sie wohl, warum würde
sie sonst so leidenschalich leugnen, daß wir ihr zuhö-
ren, aber immer wieder singt sie, pfei sie sich über diese
Ahnung hinweg.
Aber es gäbe auch sonst noch immer einen Trost für
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sie: wir hören ihr doch auch gewissermaßen wirklich zu,
wahrscheinlich ähnlich, wie man einem Gesangskünstler
zuhört; sie erreicht Wirkungen, die ein Gesangskünstler
vergeblich bei uns anstreben würde und die nur gerade
ihren unzureichenden Mitteln verliehen sind. Dies hängt
wohl hauptsächlich mit unserer Lebensweise zusammen.
In unserem Volke kennt man keine Jugend, kaum eine
winzige Kinderzeit. Es treten zwar regelmäßig For-
derungen auf, man möge den Kindern eine besondere
Freiheit, eine besondere Schonung gewährleisten, ihr
Recht auf ein wenig Sorglosigkeit, ein wenig sinnloses
Sichherumtummeln, auf ein wenig Spiel, dieses Recht
möge man anerkennen und ihm zur Erfüllung verhelfen;
solche Forderungen treten auf und fast jedermann billigt
sie, es gibt nichts, was mehr zu billigen wäre, aber es gibt
auch nichts, was in der Wirklichkeit unseres Lebens
weniger zugestanden werden könnte, man billigt die
Forderungen, man macht Versuche in ihrem Sinn, aber
bald ist wieder alles beim Alten. Unser Leben ist eben
derart, daß ein Kind, sobald es nur ein wenig läu und
die Umwelt ein wenig unterscheiden kann, ebenso für
sich sorgen muß wie ein Erwachsener; die Gebiete, auf
denen wir aus wirtschalichen Rücksichten zerstreut le-
ben müssen, sind zu groß, unserer Feinde sind zu viele,
die uns überall bereiteten Gefahren zu unberechenbar –
wir können die Kinder vom Existenzkampfe nicht fern-
halten, täten wir es, es wäre ihr vorzeitiges Ende. Zu
[ ]
diesen traurigen Gründen kommt freilich auch ein erhe-
bender: die Fruchtbarkeit unseres Stammes. Eine Gene-
ration – und jede ist zahlreich – drängt die andere, die
Kinder haben nicht Zeit, Kinder zu sein. Mögen bei
anderen Völkern die Kinder sorgfältig gepflegt werden,
mögen dort Schulen für die Kleinen errichtet sein, mö-
gen dort aus diesen Schulen täglich die Kinder strömen,
die Zukun des Volkes, so sind es doch immer lange Zeit
Tag für Tag die gleichen Kinder, die dort hervorkom-
men. Wir haben keine Schulen, aber aus unserem Volke
strömen in allerkürzesten Zwischenräumen die unüber-
sehbaren Scharen unserer Kinder, fröhlich zischend oder
piepsend, solange sie noch nicht pfeifen können, sich
wälzend oder kra des Druckes weiterrollend, solange
sie noch nicht laufen können, täppisch durch ihre Masse
alles mit sich fortreißend, solange sie noch nicht sehen
können, unsere Kinder! Und nicht wie in jenen Schulen
die gleichen Kinder, nein, immer, immer wieder neue,
ohne Ende, ohne Unterbrechung, kaum erscheint ein
Kind, ist es nicht mehr Kind, aber schon drängen hinter
ihm die neuen Kindergesichter
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