Drüberleben
Wängler?«
» Frau Schaumann, ich denke, dass wir an dieser Stelle erst einmal Schluss machen und ich Sie jetzt zu Ihrer zuständigen Pflegerin begleite, die Ihnen den Tagesplan und den Ablauf hier erklären wird. Wir werden uns übermorgen wiedersehen. Sie werden wöchentlich einen Einzeltermin bei mir haben, den ich Ihnen noch mitteile. Alles andere erklärt Ihnen dann Ihre Pflegerin, die auch immer Ihre erste Ansprechpartnerin sein wird, wenn es Fragen oder Probleme gibt.«
Wir erheben uns beinahe gleichzeitig. Beate Wängler lächelt fahl und mit dem Lächeln eines Menschen, der gelernt hat, dass Lächeln die Munition ist, die die Waffe des Schweigens um ein Vielfaches effektiver macht. Sie geht an mir vorüber, ihr blonder Zopf wippt dabei rhythmisch auf ihrem weißen Kittel hin und her, und öffnet die Tür. Mit einem » So, bitte, Frau Schaumann« bedeutet sie mir, den Raum vor ihr zu verlassen.
Nachdem sie die Tür abgeschlossen hat, gehen wir erneut den langen Gang entlang, in dem mittlerweile vereinzelt Menschen stehen. Zwei Frauen und ein Mann starren mich an. Ich starre zurück und versuche dann ein Lächeln, das mir im gleichen Moment unpassend erscheint. Vor einem Raum, dessen gesamte vordere Front verglast ist, bleiben wir stehen.
» Hier verabschiede ich mich von Ihnen. Zu Ihrer Orientierung: Wenn Sie Fragen haben, etwas benötigen oder jemanden zum Sprechen brauchen, dann finden Sie ihn hier. Ihre Medikamente können Sie ebenfalls hier abholen– die Zeiten der Ausgabe hängen an der Pinnwand dort drüben. Außerdem befindet sich im hinteren Zimmer der Aufenthaltsraum für die Pflegekräfte. Bitte warten Sie hier, es kommt gleich jemand und holt Sie ab.«
Sie lächelt wieder und streckt mir ihre Hand entgegen. Sie ist kalt und trocken, die Hand. Kalt und trocken.
Fünf
I ch setze mich auf einen der vier Stühle, die vor dem Anmelderaum stehen. Zwischen den Stühlen steht ein kleiner Tisch, darauf ein Stapel Broschüren, die über die Klinik und ihre Behandlungsmethoden informieren.
Herzlich willkommen.
Gut, dass Sie zu uns gefunden haben! Das Suchen und Finden ist oftmals schon der erste Schritt eines langen und beschwerlichen Weges voller …
(Hier breche ich ab und überfliege die nächste Seite:)
Die Klinik H. ist eine vollstationäre Einrichtung, die seit 1983 Patienten mit den folgenden Erkrankungen behandelt:
·Psychosen
· Wahnhafte Störungen
·Depressionen
·Angsterkrankungen
· Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen
( » Borderline«)
Ich lege die Broschüre zurück auf den Stapel und versuche stattdessen, durch die Glasscheibe der Anmeldung zu erkennen, ob sich überhaupt jemand im Raum der Pfleger befindet. Es ist mittlerweile zehn Uhr, und gerade, als ich beschließe zu klopfen, tritt ein etwa dreißigjähriger Mann aus einem Raum heraus, blickt mich erschrocken an, fasst sich augenblicklich, lässt die Tür hinter sich zufallen und sagt: » Hallo.«
» Hallo«, antworte ich.
» Ich bin Richard. Wer bist du? Du bist die Neue, oder? Ich habe schon gehört, dass du die Neue bist. Ich habe schon gehört, dass du heute kommst. Habe ich schon gehört. Ist immer anstrengend, so ein erster Tag. Ging uns allen so. Geht’s dir auch so? Ging mir auch so. Ich setze mich mal, ja. Wartest du auf jemanden? Ich musste hier auch warten. Musste ganz schön lange warten. Wie heißt du noch mal? Und warum bist du hier? Habe ich schon gesagt, wie ich heiße? Oder kannst du dir eh nicht alle Namen merken? Ich kann mir ja nie alle Namen merken. Das ist immer so schwierig, sich so viele Gesichter auf einmal zu merken, oder?«
Er sieht mich mit braunen, weit aufgerissenen Augen an.
Ich starre zurück und antworte schließlich: » Entschuldigung, aber du redest unheimlich schnell.«
Richard fährt unbeirrt fort: » Ja, das ist so eine Sache bei mir, ich kann da nichts machen, ich muss da noch dran arbeiten, sagt Frau Wängler, da muss ich echt noch dran arbeiten, aber das wird schon besser, ich bin auch schon länger hier, schon drei Monate, aber ich schlafe nicht hier, ich schlafe mittlerweile schon zu Hause und komme nur noch tagsüber. Weißt du schon, wie lange du hier sein wirst? Oder hat dir das noch keiner gesagt? Und hat dir schon einer gesagt, in welchen Gruppen du sein wirst? Oder hat noch keiner mit dir gesprochen? Hm, wahrscheinlich nicht, du sitzt ja noch hier, dann hat die Gräfin wohl noch nichts gesagt. Bei der musst du aufpassen, die ist gefährlich, die ist ganz
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