Drüberleben
Ihnen nicht gut geht. Wie fühlt sich das denn für Sie an? Sind Sie niedergeschlagen, zornig, antriebslos?«
» Ja, genau. Das ist ja das Lustige hier. Diese absurden Euphemismen. Wenn ich drei Wochen das Bett nicht verlasse und stinke und ekelhaft bin und widerwärtig und so absolut zum Kotzen und nicht aufstehen kann, weil sich mein Körper anfühlt, als hätte man ihn mit Blei aufgefüllt, und wenn ich diesen Körper einfach nicht mehr aus dem Bett kriege und erst recht nicht nach draußen und wenn ich mich einfach nicht bewegen kann, dann nennen Sie das › antriebslos‹, so, als würde mir ein Motor fehlen und als wäre mein Körper eine Maschine, der leider mal eben der Antrieb kaputtgegangen ist. Und weil ich das jetzt so sage, können Sie sich da jetzt gleich auch noch aufschreiben, dass ich zornig bin, denn das ist ja auch so ein hübsches Wort für diese ganze Scheiße, Zorn! Als würde das irgendetwas sagen.«
» Sie wirken zornig.«
» Ja, verdammt.«
» Worauf sind Sie zornig?«
» Man kann nur über etwas zornig sein.«
» Gut, worüber sind Sie zornig, Frau Schaumann?«
» Weiß ich nicht. Ich weiß es nicht. Ich bin im Grunde nicht zornig. Ich bin sauer. Oder wütend. Zornig, das ist so ein hübscher Begriff. Das ist viel zu eitel für das, was ich empfinde. Meine Wut ist höchstens Zorn, der sich im Dreck gewühlt hat.«
» Gut. Beschreiben Sie Ihre Wut.«
» Das kann ich nicht! Kein Mensch kann doch seine Wut beschreiben! Soll ich Ihnen sagen, was die anhat? Oder welche Haarfarbe sie hat? Die Wut ist einfach da. Ich bin wütend, weil alles einfach so katastrophal ist.«
» Was ist katastrophal?«
» Alles. Hab ich doch gesagt. Alles. Alles ist katastrophal. Dass ich hier sitzen muss. Dass ich das hier erzählen muss. Dass ich über so etwas reden muss. Dass da ein nackter Mann in meinem Bett liegt und mich für völlig wahnsinnig hält. Dass ich nicht einfach draußen herumlaufen kann, arbeiten kann und dann irgendwann schlafen gehen kann. Dass ich nicht einfach normal sein kann. Dass alles irgendwie schwer sein muss.«
» Wie haben Sie denn bisher diese Schwere ausgehalten?«
» Keine Ahnung. Vielleicht habe ich mich einfach daran gewöhnt, dass nie irgendetwas einfach ist. Oder dass mir nie irgendetwas einfach vorkommt. Irgendwann gewöhnt man sich doch an so etwas. Vielleicht leide ich ja auch an Fallsucht. Vielleicht bin ich so süchtig danach, in meine eigenen Fallen zu tappen, dass ich es irgendwie gut finde, mir wehzutun, mich selbst gefangen zu nehmen wie ein Tier, das gefälligst tanzen soll. Hier ist es warm. Könnten Sie bitte das Fenster öffnen?«
Beate Wängler nickt widerwillig, legt die Notizen, die sie sich während unserer Unterhaltung gemacht hat, auf den Schreibtisch und öffnet das Fenster hinter sich. Ich versuche, auf den Block zu schauen, auf dem sie etwas über mich und meinen Zorn aufgeschrieben hat, sehe mich aber außerstande, ihre Schrift zu entziffern. Sie setzt sich mit einem Seufzer wieder auf ihren Stuhl.
» Frau Schaumann, in Ihrem Vorgespräch haben Sie erwähnt, dass Sie bereits in mehreren Kliniken waren. In wie vielen genau?«
» In zwei Kliniken.«
» Warum waren Sie dort?«
» Aus den gleichen Gründen.«
» Konnte man Ihnen dort helfen?«
» Was denken Sie? Wenn man das gekonnt hätte, würde ich dann jetzt hier sitzen?«
» Nun, einige Menschen brauchen intensivere Hilfe. Öfter. Einmal reicht oft nicht aus.«
» Ja, ich bin dann wohl einer von diesen einigen Menschen .«
» Haben Sie auch ambulante Hilfe in Anspruch genommen?«
» Ja.«
» Befinden Sie sich zurzeit in ambulanter Behandlung?«
» Ja. Nein. Ja. Ich gehe manchmal zu einem Therapeuten. Er hat gesagt, dass es vielleicht besser wäre, wenn ich etwas intensiver betreut werden würde. Das hat er so gesagt. Intensiver betreut. Als wäre ich ein Unfallopfer, das jetzt auf die Intensivstation muss.«
» Hmhm«, nickt Beate Wängler, als wisse sie, wovon ich spreche. » Fühlen Sie sich denn so? Wie ein Opfer?«
» Herrje, müssen Sie alles aufgreifen, was ich sage, und es zu einer Frage umwandeln?«
» Macht Sie das wütend?«
» Schon wieder!«
» Was genau meinen Sie mit › schon wieder‹?«
» Ich fühle mich nicht wie ein Opfer. Fühlen Sie sich wie ein Opfer?«
» Warum sollte ich mich wie ein Opfer fühlen, Frau Schaumann?«
» Könnten Sie bitte aufhören, dauernd meinen Namen zu wiederholen?«
» Warum stört Sie das?«
» Warum machen Sie das, Frau
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