Drüberleben
Krankenhausbett in einem Krankenhauszimmer in einem Krankenhaus, das sich Klinik nennt. Genaugenommen wurde es so benannt, und es hat noch ein paar andere Namen, » Psychiatrie« zum Beispiel. Ich lege meine schwere Tasche also auf ein Bett der Psychiatrie, das auf der Station für Menschen mit Depressionen und Angsterkrankungen steht.
Die Tasche liegt also auf dem Bett, und ich liege einen Augenblick später daneben, und so liegen die Tasche und ich auf einem Bett, das ab heute meinen Geruch und meinen Körper und jede einzelne meiner mühsam herausgequetschten Tränen aufsammeln wird, denn meine Tränen fließen schon lange nicht mehr, irgendwann hat jeder Körper mal genug von diesem ständigen Zittern und Beben und Flüssigkeiten herausfließen lassen.
Wir sind da. Wir sind alle hier drinnen und da. Der Körper, die Angst und ich. Wir sind hier und liegen auf dem Bett und starren an die Decke, die ab heute zuschauen wird, wie wir hier Nacht für Nacht herumliegen und uns fragen, ob wir uns jemals endlich trennen können. Die Tränen und ich, der Körper und das Sein in Räumen wie diesem. Die Decke wird uns bei diesem Versuch einer Scheidung zusehen, und sie wird sich vielleicht erinnern an all die anderen feuchten Gesichter an all den anderen müden Körpern, die schon vor mir hier lagen. Vielleicht nicht im selben– aber zumindest im gleichen Bett und auf jeden Fall im gleichen Elend, das ist absolut sicher.
Noch nie habe ich es ertragen können, in fremden Betten zu liegen. Nicht bloß nicht in fremden benutzten Betten, in denen der Talg und die kleinen abgefallenen Hautschüppchen und die Hormone und Pheromone und der ganze restliche Abfall eines Menschen seinen Geruch in alles drücken, das ihn umgibt. Ich habe es nicht ertragen, in Betten zu liegen, in denen schon einmal jemand geschlafen hat, egal wie frisch die Wäsche war, die aufgezogen worden ist, und egal wie sehr ich diesen Körper, der dort schon geschlafen und geatmet und geträumt hat, mochte.
In jedem Hotel habe ich mich in Kleidung gewickelt und sehr genau darauf geachtet, dass kein unbedeckter Körperteil die Kissen oder die Bettdecke berührte. In jedem Krankenhausbett habe ich meine Decken aus Kleidung ausgebreitet und mich daraufgelegt– immer wissend, dass meine Hände oder mein Mund im Schlaf das fremde, noch so heiß gewaschene Laken doch berühren werden.
Ein sinnloses Unterfangen also, dessen zwanghafte Wiederholung schon zu einem Running Gag geworden war, über den ich selbst nicht lachen konnte, obschon ich seine Pointe war.
Dieses obsessive Vermeiden jeder Berührung zwischen meinem Körper und der Unterlage oder der Decke habe ich inzwischen so weit perfektioniert, dass ich irgendwann die Idee hatte, immer einen Schlafsack mitzunehmen und ausschließlich in diesem zu schlafen, egal wie luxuriös das Hotel war, in dem ich schlief, oder wie frisch die Laken des Krankenhausbettes aussahen. Auch meinen jeweiligen Freunden habe ich glaubhaft klingende Geschichten erzählt, die gar keinen anderen Schluss zuließen als die Tatsache, dass es absolut notwendig war, in diesem mitgebrachten Sack zu schlafen. Es war demütigend und zugleich erleichternd, dass nie jemand versuchte, mich davon abzuhalten, bei jeder Übernachtung irgendwann den Schlafsack aus seiner Tasche zu ziehen, ihn auf dem Bett auszubreiten und schließlich in ihn zu kriechen wie ein Kind in einem Ferienlager, kurz bevor im Dunkeln die ersten Geschichten geflüstert werden. Es war demütigend, weil nur ich die Wahrheit kannte, und erleichternd, weil ich sie niemandem erzählen musste.
Dieses Mal habe ich den Schlafsack zu Hause gelassen, weil ich beschlossen habe, dass ich ab heute alles berühren werde, egal, wie ekelhaft es sein mag. Dazu gehören: das Laken, meine Gedanken beim Betrachten meiner Gedanken, die Decke, zwei bis acht Erinnerungen, das Kopfkissen, die Tränen, der Schmutz meiner Fingernägel, meine Antwort auf die Frage, wie es mir heute geht, und die Kaffeemaschine im Gemeinschaftsraum. Ich werde alles anfassen, ich werde alles in die Hand nehmen, weil ich das kann, Etwas-in-die-Hand-nehmen, und ich werde es lieben, ich werde es so unfassbar lieben, wie man etwas sehr Schönes, sehr Kostbares liebt, und so sehr, dass alle Ekelhaftigkeit aus den Dingen verschwindet.
Ich drehe mich auf die Seite und sehe zu dem zweiten Bett im Zimmer herüber. Auf dem Bett befinden sich andere Kissen als auf meinem, private Kissen, Kissen, die jemand mitgebracht hat
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