Drüberleben
gefährlich, die Gräfin, da muss man aufpassen, muss man da, ich habe da…«
Die Tür öffnet sich erneut mit einem heftigen Schwung, und ein zierliches, sehr dünnes Mädchen blickt Richard an.
» Richard, was machst du denn da? Ich soll dich abholen. Du bist schon viel zu spät– wir haben schon wieder angefangen. Los!«
Sie hält die Tür auf, und Richard erhebt sich von seinem Stuhl und sieht mich an. » Also, bis später dann, ja.«
Das Mädchen wartet, bis Richard an ihr vorübergegangen ist, dann lässt sie die Tür hinter beiden zufallen.
Im gleichen Moment öffnet sich die Tür des Pflegerraums, und heraus tritt eine dicke etwa fünfzigjährige Frau, die mich mit zusammengekniffenen Augen ansieht.
» Schaumann, Ida?«
» Ja.«
Sie nickt.
» Mein Name ist Gräfling, ich bin Ihre Bezugspflegerin. Würden Sie mir bitte folgen?«
Frau Susanne Gräfling arbeitet im Klinikum H. schon, seit der erste Patient auf Station 1 aufgenommen wurde. Die Geschichten, die ich in den kommenden Wochen über sie hören werde, sind so vielfältig wie die Gerüchte, die am Tage im Essensraum geflüstert und am Abend auf dem Raucherbalkon belacht werden. Frau Gräfling ist neunundvierzig Jahre alt, verheiratet, mag die Farbe Grün, Thomas Gottschalk und die Tatsache, dass ihre beiden Kinder begriffen haben, dass Arbeit eine Größe im Leben ist, die nicht nur von substantieller Bedeutung im Hinblick auf die psychische Gesundheit ist, sondern sich schlichtweg auch für ein anständiges Leben gehört. Frau Gräfling verachtet Faulheit, ihre Nachbarin Sabrina, mit der sie jahrzehntelang eine innige Freundschaft verband, bis Sabrina beschloss, einen Mann kennenzulernen, der es wagte, mehr Geld als sie zu verdienen, und sie es daraufhin wagte, nicht mehr zu arbeiten. Frau Gräfling hielt das für eine nicht wiedergutzumachende Charakterschwäche und verzieh Sabrina nie, dass diese sich so leicht hatte abhängig machen können. Außerdem verachtenswert erscheinen ihr: Vegetarier, Menschen, die sich nicht helfen lassen, und Hysterie in jeder erdenklichen Form.
Frau Gräfling hat schon viele kommen und gehen sehen. Traurige und Verzweifelte, Verwundete und Kaputte. Die Therapeuten und Ärzte betreuen meistens nur eine bestimmte Zahl an Patienten, die anderen sehen sie in der Regel nur als Namen auf dem Papier oder als stille Gestalten auf dem Gang. Sie aber sieht sie alle. Siebenundzwanzig Jahre lang hat sie die verschiedensten Arten von Menschen die Station betreten sehen. Männer, Frauen, Mädchen, Jungen, hübsche, hässliche, fette, dünne, junge, alte, große, kleine, blonde, braunhaarige und auch welche, die gar keine Haare hatten. Sie alle waren so unterschiedlich wie ihre Symptomatiken, und Frau Gräfling hatte alle ihre Akten gelesen. Und sie hatte mit allen gesprochen. Und sie hatte erkannt: Sie alle hatten etwas gemeinsam. Es war nicht die Verzweiflung oder der Irrsinn oder der Wahnsinn, den sie alle mitbrachten. Das, was alle wirklich gemeinsam hatten– da war sich Frau Gräfling sehr sicher–, war Hoffnung. Egal wie ausweglos und wie verfahren und verworren und verbogen das Leben derjenigen war, die ihren Raum betraten, alle hatten diese eine Sache gemeinsam: Irgendetwas in ihnen hatte ihnen gesagt, dass es da noch diese allerletzte Möglichkeit gab, dass ihnen irgendwie geholfen werden konnte. Und das, fand sie, war doch schon mal ein ziemlich guter Anfang.
Nichtsdestotrotz hatte sie nach einem unglücklichen Zwischenfall zwei Jahre nach Beginn ihrer Dienstzeit in der Klinik beschlossen, ein rüdes Regiment zu führen, das keinen Widerspruch duldete. Sie war es leid, Dinge immer wieder zu erklären, und ohnehin kam es ihr meistens so vor, als seien diese armen Menschen oft in einen Zustand einer solchen Infantilität zurückgefallen, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als sie mit herrischer Stimme immer wieder zu ermahnen, ihren Aufforderungen Folge zu leisten. Mit den Jahren hatte sich diese Art des Kommandierens als zweckmäßig und bequem herausgestellt, denn die Patienten leisteten ihr keinen Widerstand und taten meistens, was sie von ihnen verlangte. Dass man sie » die Gräfin« nannte und dass dieser Spitzname sich über die Jahrzehnte bis heute gehalten und weitergetragen hat, missfiel ihr anfangs zwar sehr, bald sah sie aber ein, dass sie diese Tatsache lediglich als eine der typischen Nebenwirkungen zu betrachten hatte, die unweigerlich einsetzen, wenn man in der Lage ist, sich durchzusetzen
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