Drüberleben
und die Stimmen, die sich unterhalten, das leise Rauschen der Bäume über mir. Ich atme flach und warte auf ein Wort, einen Satz, der mir einen Grund gibt, nicht einfach aufzulegen.
» Oh«, sagt meine Mutter, » und warum?«
» Das Übliche.«
» Ist es immer noch wegen Julia?«, fragt sie zaghaft, und ich höre den alten Korbsessel unter ihrem Gewicht ächzen.
» Es ist wegen allem«, antworte ich.
» Aber du warst doch schon in zwei Kliniken, Ida. Das muss doch irgendwann mal besser werden«, wendet sie ein und seufzt hörbar, » vielleicht solltest du einfach mal wegfahren. Dich ablenken. Mal wieder ein gutes Buch lesen, das hast du doch früher so gerne getan.«
» Welches früher meinst du denn jetzt, Mama? Das früher, in dem ich depressiv zu Hause war und deshalb wochenlang nicht zur Schule gegangen bin, oder etwa das früher, als ich zum ersten Mal studiert habe und dann zugedröhnt nachts in das Krankenhaus eingeliefert wurde, oder aber du meinst das früher …«
» Red nicht so einen Unsinn, Ida. Es gab auch andere Zeiten«, unterbricht sie mich wirsch, um sich dann augenblicklich zu fassen: » Wie ist denn das Wetter so bei euch, eigentlich? Hier ist es ja ziemlich heiß für die Jahreszeit.«
Sie redet über das Wetter und über die Nachbarn, über die Nichte und über das Wetter bei der Nichte, die in einem anderen Ort wohnt. Es habe Gewitter gegeben. Ein schlimmes Gewitter. Mein Vater donnert im Hintergrund etwas Schweres auf den Tisch und ruft Grüße in den Hörer. Wir legen auf mit den besten Wünschen, natürlich.
Es gab auch andere Zeiten, Ida.
Nächte im Park mit Rotwein und Kerzen und kindischem Gelächter. Händchenhalten im Bus. Das erste Tattoo. Das erste Mal feuchte Lippen auf warmen Fingerkuppen. Das Gras an den Füßen, den Kopf auf der Decke. Die Romantik in Filmen nachspielen und deshalb nachts in den See springen. Erst hinterher zugeben, dass man nicht schwimmen kann. Das Leben im Konjunktiv, die Gedanken im Perfekt. Hoffen. Geburtstag haben. Das Gefühl danach. Das Autoradio laut aufdrehen und an der Zigarette ziehen. Weil das so schön im Fernsehen aussieht. Sich die Füße und das Herz verbrennen. Sich die Finger danach an den Eiswürfeln im Gin kühlen. Reden. Flüstern. Tanzen. Tränen wegküssen, weil sich das so schön anfühlt. Zusammen duschen. In der Badewanne liegen und sich Geschichten erzählen lassen. Der erste Orgasmus, das erste Mixtape. Das zweite Mixtape. Der erste Liebeskummer. Und das Drama-Pflaster Alkohol. Eine neue Nummer einspeichern, die Gutes verspricht. Von der Liebe sprechen, als hätte man sie schon einmal getroffen. Sich auflehnen. Sich gehenlassen. Demonstrieren. Glauben. Pommes rot-weiß nachts um drei. Du kannst immer anrufen. Sich wichtigmachen. Ein neues Buch aufschlagen. Ein neues Kapitel, kein neuer Anfang. Anfangen aufzuhören und aufhören anzufangen. Sich erschrecken. Sich tarnen. Sich schützen. Den Brief abschicken. Nicht einknicken. Sagen, dass man sich liebt. Hoffen, dass das stimmt. Eine Liste machen. Sich aufgeben, sich verlieren, sich zum Teufel nicht wiederfinden. Das ziemlich gut finden.
Es gab auch gute Momente, Ida. Es gab auch gute Momente.
Dreizehn
S terne könnten auch einfach winzige Städte im Himmel sein. Das könnten sie sein, ungelogen. Sie sind aber eben bloß Sterne, und das wissen wir, das wissen wir so genau, dass es wehtut. Wir wissen so viel mehr, als wir eigentlich sollten, weil wir danach verlangen, immer noch ein bisschen mehr in Erfahrung zu bringen, immer noch ein Stückchen mehr dieses kleinen Details zu ergründen, das uns unter den Nägeln brennt, weil wir alles anfassen müssen, was glänzt, und den Rest auch.
Der Tacho zeigt 130 Stundenkilometer, und das heißt, dass dieses Auto mit konstanter Geschwindigkeit und ohne das Wissen darum, dass diese Straße nicht dorthin führt, dass diese Straße nicht einmal immer geradeaus führt, in zwei Stunden am Meer sein könnte. Zum Meer wollen immer alle, in die Berge nur die Alten. Das scheint eine Regel zu sein. Eine weitere ist, dass das Meer kein Anfang, sondern ein Ende ist. Sind wir erst einmal am Meer angekommen und haben wir erst ein bisschen romantisch auf die Wellen und auf das Wasser geschaut, ist es vorbei. Entweder die Geschichte oder die Sache mit dem Weiterkommen, denn am Strand halten keine Fähren und keine Schiffe, am Strand kann man nur romantisch gucken und sich immerzu der Möglichkeit der Unendlichkeit hingeben– auch wenn diese
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