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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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profilieren?«
    » Das haben Sie gesagt. Ich habe nur davon gesprochen, dass Sie einen gewissen Nutzen aus Julias Tod zogen.«
    Die Tränen tropfen auf meine Hose und hinterlassen kleine, dunkelblaue Flecken.
    » Ich habe keinen Nutzen daraus gezogen«, sage ich kaum hörbar, » damals nicht und danach auch niemals. Dass sich nach dem Unfall alles änderte, war zu erwarten. Dass mich alle in Ruhe ließen, weil ich die Freundin des toten Mädchens war. Das war doch absolut zu erwarten. Und wenn ich gekonnt hätte, dann hätte ich Julia zurückgeholt. Es kam mir nicht gelegen, dass sie tot war. Ich wollte lediglich ausdrücken, dass ich das Verhalten der anderen verachtet habe. Dass sie erst einen Grund brauchten, um zu verstehen, dass manche Menschen eben anders sind.«
    » Wie anders waren Sie denn, Frau Schaumann?«
    » Ich war einfach anders. Ich habe mich für die meisten Dinge nicht interessiert. Ich bin kaum ausgegangen. Ich war manchmal mit Peer und Sebastian auf Partys und selten auch mit Julia, aber eigentlich war ich die meiste Zeit zu Hause. Und das fanden die anderen eben komisch, was weiß ich.«
    Beate Wängler wirft einen schnellen, beinahe unmerklichen Blick auf die Uhr. » Unsere Zeit ist gleich vorüber. Vorher möchte ich jedoch zu meiner Einstiegsfrage zurückkehren: Was erwarten Sie sich von dem Aufenthalt in dieser Klinik? Was wünschen Sie sich von mir, von uns?«
    Ich senke den Blick, und mit einem Mal ist alle Wut, ist alle Aggression verschwunden. Ich seufze müde und antworte schließlich: » Ich wünsche mir, dass ich diese Last loswerde. Dass ich aufhören kann zu glauben, dass ich ihren Tod hätte verhindern können. Dass ich aufhören kann, traurig über mich zu sein. Dass ich aufhöre, so verdammt jämmerlich zu sein. Das wäre in etwa meine Wunschliste, lieber Weihnachtsmann.«
    Beate Wängler lächelt: » Ich denke, das werden wir hinbekommen«, erhebt sich, reicht mir die Hand und öffnet mir die Tür. » Ich wünsche Ihnen einen wirklich guten Tag, Frau Schaumann, bis zum nächsten Mal.«
    Die Tür fällt hinter mir ins Schloss, und ich stehe zitternd auf dem Gang. Die Sonne fällt durch die Fenster am Ende des Flures und verleiht der Szenerie ein unwirkliches Aussehen, fast so, als stünde ich inmitten einer Filmkulisse. Aus dem Aufenthaltsraum dringt Lachen, und jemand schreit: » Zum Teufel damit!« Ich wende mich ab und nehme die Treppe nach unten.
    Draußen angekommen laufe ich ein paar Meter über das Gelände, bis ich den Krankenhauspark erreiche und mich dort auf eine Bank im Schatten setze.
    Ich beobachte eine Weile die Menschen, die an mir vorübergehen und mir kaum Beachtung schenken. Es sind alte Menschen und Kranke, manchmal auch ein Jogger oder ein Fahrradfahrer. Ich betrachte ihre Gesichter, wenn ihr Blick mich streift, und frage mich, wie schon oft, ob es besser ist, wenn ein Leiden offensichtlich, wenn es sichtbar ist. Wenn ein Leiden eine Wunde bedeutet, die genäht und versorgt, gepflastert und eingecremt wird, und wenn diese Versorgung ein Zeichen des nahenden Heilungsprozesses bedeutet. Einen Verband um den Kopf bräuchte ich, einen riesigen Verband um meinen Kopf, der allen davon erzählt, dass dieser Kopf, dass dieses Gehirn verwundet wurde. Dass es jetzt gepflegt werden muss, dass es heilen muss und dass sich schon jemand darum kümmern wird, ganz sicher.
    Das Vibrieren meines Telefons reißt mich aus den Gedanken, und ich muss eine Weile suchen, bis ich es aus der Tasche ziehen und auf dem Display erkennen kann, dass es meine Eltern sind, die anrufen.
    » Ja, hallo Ida, hier spricht deine Mutter«, sagt die vertraute Stimme aus dem Telefon, das ich so fest an mein Ohr drücke, dass ihre Stimme mir beinahe erscheint, als säße meine Mutter plötzlich neben mir.
    » Hallo Mama«, antworte ich und lächle, lächle ohne Grund.
    » Wir haben so lange nichts von dir gehört, da wollten wir mal nachfragen, wo du steckst und wie es dir so geht«, sagt meine Mutter und klingt ernsthaft besorgt.
    » Ich stecke in der Klinik, seit ein paar Tagen«, antworte ich, während ich im gleichen Moment erinnere, dass niemand außer Johannes und Michael weiß, dass ich in dieser Klinik bin.
    » Ach Gott, was fehlt dir denn? Warum hast du denn nicht Bescheid gesagt? Musstest du operiert werden?« Sie wird hysterisch.
    » Nein, ich bin in der Psychiatrie, Mama.«
    Die plötzliche Stille am anderen Ende lässt die Geräusche des Parks wieder in den Vordergrund treten. Die Vögel

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