Drüberleben
sollten, damit wir uns besprechen können«, sagt sie.
Ich entschuldige mich höflich, und die Gräfin bittet mich, ihr zu folgen. Als wir am Gruppenraum vorübergehen, sehe ich Isabell dort sitzen, die auf Nina einredet und mir nur einen kurzen stechenden Blick zuwirft.
Frau Gräfling öffnet die Tür zu einem winzigen Raum und bittet mich, Platz zu nehmen. Wir sitzen an einem kleinen, runden Tisch, auf dem ein paar Taschentücher, ein Zettel und ein wenig Dekor liegen.
» Nun, Frau Schaumann«, beginnt sie, » ich habe Sie hierhergebeten, weil ich ein paar Dinge mit Ihnen zu besprechen habe. Zunächst einmal würde ich gerne in Erfahrung bringen, wie Sie sich hier auf der Station fühlen und ob Sie bisher gut zurechtkommen.«
Auch sie lächelt, faltet die Hände und lächelt.
» Gut«, antworte ich knapp, » wirklich gut. Danke.«
» Haben Sie denn schon Anschluss gefunden?«, fragt sie.
» Ja, habe ich«, lüge ich, um weiteren Fragen zu entgehen.
» Gut, gut«, findet Frau Gräfling, scheinbar mit meiner Antwort zufrieden. Wir schweigen einen Moment. Die Gräfin betrachtet nachdenklich ihre Hände und dann mich. » Frau Schaumann, ich weiß, Sie haben das alles schon sehr häufig erzählt, aber auch ich würde gerne noch einmal wissen und von Ihnen hören, warum Sie eigentlich zu uns gekommen sind.«
» Ist das hier so eine Art Spiel«, frage ich, » so ein Spiel, in dem ich immer und immer wieder das Gleiche erzählen muss, und dann wird abgeglichen, ob sich das Gesagte auch überschneidet, damit man feststellen kann, wie sehr ich noch in der Realität verweile oder ob ich die gleiche Geschichte noch nicht mal mehr als zweimal erzählen kann, ohne dass sich eklatante Abweichungen ergeben?«
Sie lacht ein schüchternes, kleines Lachen, nimmt sich aber augenblicklich wieder zusammen. » Nein, leider ist das kein Spiel. Es gehört einfach zum Procedere dazu, dass Sie mir erzählen, warum Sie der Meinung waren, dass es notwendig sei, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben«, sagt sie schließlich.
» Mal abgesehen davon, dass Sie bestimmt längst in meiner Akte gelesen haben, warum ich hier bin, und auch bei dem Gespräch mit Professor Kropka anwesend waren, fällt es mir zunehmend schwerer, die Gründe dafür in einfache Worte zu fassen«, antworte ich.
Sie fordert mich auf, es zu versuchen, und ich zähle zwei Diagnosen auf, von denen ich glaube, dass sie die richtige Antwort sind.
» Frau Schaumann, deshalb sind viele hier. Ich aber möchte gerne wissen, warum Sie hier sind. Nicht, welche Diagnosen Sie haben oder welche Sie zu haben glauben. Ich möchte von Ihnen wissen, was passiert ist, dass Sie…«
» Ja, schon klar. Aber wenn Sie wirklich wissen möchten, worum es mir hier geht und worum es überhaupt geht, dann ist diese Frage einfach völlig falsch gestellt«, unterbreche ich sie.
Sie sieht mich fragend an.
» Es ist so: Die Frage kann nicht lauten, warum ich etwas finde oder nicht finde. Die Frage müsste viel mehr lauten, warum die anderen etwas finden oder nicht finden. Ich finde es zum Beispiel in Ordnung, traurig zu sein. Ich finde es auch in Ordnung, über Dinge nicht hinwegzukommen. Wir sollten alle mal wieder lernen, über Dinge NICHT hinwegzukommen, anstatt andauernd zu labern und zu quatschen über all die Dinge, die wir nicht verstehen. Und sie danach immer noch nicht verstehen. Ich komme über ziemlich vieles nicht hinweg, Frau Gräfling. Zum Beispiel darüber nicht, dass absolut gar nichts so ist wie im Fernsehen. Da entwickeln sich alle immer. Der Böse erlebt einen Konflikt, ein Problem und wandelt sich von Sequenz zu Sequenz, von Szene zu Szene und schließlich von Akt zu Akt zum Guten. Hässliche Frauen erobern verständnisvolle, gut aussehende Männer, die jeden noch so unerträglichen Scheiß mit sich machen lassen. Haben Sie davon schon einmal in der Realität gehört? Also ich nicht! Ich nicht!«
Frau Gräfling sieht mich stumm an.
Ich betrachte das als Aufforderung weiterzusprechen: » Und dann andauernd diese Selbsthilfebücher. Vereinfachung? Wie soll man sich denn vereinfachen, wenn man selbst zum Lesen der Bedienungsanleitung des Haarglätters einen halben Tag benötigt! An meiner Computertastatur befindet sich ein Warnschild, sie sei gesundheitsgefährdend. Damit ist gemeint, dass man sich irgendetwas am Handgelenk zuziehen kann, wenn man den Arm falsch beim Tippen hält. Also ich komme nicht darüber hinweg. Ich schaffe das nicht. Ich finde das alles so
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