Drüberleben
dermaßen unerträglich, also…«
Frau Gräfling atmet tief ein und heftig wieder aus. Dann beugt sie sich zu mir und fragt: » Warum reden wir hier über Ihren Haarglätter, Frau Schaumann? Denken Sie wirklich, Ihr Haarglätter ist der Grund für Ihre Probleme?« Ihre Augen blitzen wütend.
Ich schüttle langsam den Kopf und werde ein wenig unruhig.
» Falls nicht, würden Sie mir bitte einfach auf meine Frage antworten?«
Ich weiß nicht, was in der Gräfin vorgeht und was als Nächstes passieren wird. Vielleicht holt sie gleich ein Messer hervor und ritzt mir Benimmformeln in die Stirn.
» Ist es, weil ich laut geworden bin?«, wage ich eine vorsichtige Frage.
Sie sieht mich kopfschüttelnd an. » Es ist nicht, weil Sie laut geworden sind, Ida. Es ist, weil Ihr Intellektualisieren Sie im Grunde nur vor einem schützt: in den Spiegel sehen zu müssen. Sie sind nicht hier, weil das Fernsehen seine Versprechen nicht hält. Und Sie sind beileibe nicht hier, weil die anderen bösen Menschen nicht Ihrer Auffassung von intelligentem Leben entsprechen. Sie, meine Liebe, sind hier, weil Sie Ihr Leben ändern wollen. Nicht das der anderen. Ihr Leben. So einfach ist das.«
» So einfach?«
» So einfach.«
» Und wie fängt man Ihrer Meinung nach damit an? Sein Leben zu ändern, meine ich?«
» Nun, Sie fangen zum Beispiel damit an, dass Sie gleich an Ihrer ersten Gruppe teilnehmen werden.« Sie dreht den Zettel zu mir, der zuvor umgedreht auf dem Tischchen lag. » Hier«, erklärt sie, » sehen Sie die Gruppen und die Zeiten, zu denen sie stattfinden. Ich habe Ihnen die Gruppen, an denen Sie teilnehmen werden, markiert. Heute findet die Depressionsgruppe statt, und zwar um elf Uhr. Dort werden Sie nicht nur Informationen über Ihre Krankheit erhalten, sondern können auch Erfahrungen und Tipps mit den anderen Patienten austauschen. Die Gruppe wird geleitet von meinem Kollegen Herrn Weimers. Haben Sie noch Fragen, Frau Schaumann?«
Ich verneine, und wir erheben uns. Sie reicht mir die Hand und drückt sie einen Moment fester und länger, als ich erwartet habe.
Gerade, als ich die Tür hinter mir zuziehen möchte, ruft sie: » Ach, Frau Schaumann?« Ich drehe mich um. » Sie werden hier noch lernen, dass das Leben da draußen nicht die Schlangengrube ist, für die Sie es halten. Im Übrigen: Selbst wenn dem so wäre– eine Schlange mit ein paar hochtrabenden Worten zu besiegen hat meines Wissens nach noch niemand geschafft.«
Ich nicke und schließe leise die Tür.
Vierzehn
A uf dem Gang treffe ich auf Nina. Ich frage sie nach dem Weg zu der Gruppe, und wir nehmen die Treppe. Ein Stockwerk höher stößt Nina die Tür auf, wie sie es damals schon bei unserer ersten Begegnung getan hat– mit einer Kraft, die ihrem abgemagerten Körper kaum zuzutrauen ist. Die Station, auf der wir uns nun befinden, ist ein identisches Abbild der unseren, und Nina zeigt auf einen Raum an der rechten Seite des Ganges.
Mehrere Stühle stehen in einem Kreis angeordnet, und wir setzen uns auf zwei Stühle nebeneinander, die sich schräg gegenüber der Tür befinden. Wir warten. Nach und nach füllt sich der Raum mit Mitpatienten, die sich auf den Stühlen verteilen. Einige von ihnen unterhalten sich flüsternd, der Großteil starrt jedoch auf seine Füße oder nach draußen, als lägen dort Dinge, die es zu vermissen gälte. Als gäbe es noch solche Dinge.
Nach einer Weile betritt ein etwa vierzigjähriger Mann in einem Flanellhemd und Jeans den Raum, ein Klemmbrett unter dem Arm und einen altmodischen Schnauzer über den Lippen. Er schließt die Tür leise hinter sich und setzt sich auf den mittleren der letzten drei freien Stühle. Er räuspert sich.
» Ich wünsche einen guten Morgen, Herrschaften«, sagt er mit einer sonoren Stimme, die nach Zigaretten und Alkohol klingt, » für diejenigen unter Ihnen, die mich noch nicht kennen: Mein Name ist Horst Weimers, ich bin Pfleger auf Ihrer Station und leite hier die Depressionsgruppe. Falls Sie also eigentlich zu dem Anfängerkurs Holz- und Metallarbeiten wollten– den finden Sie hier nicht.«
Niemand lacht.
» Nun gut, meine Damen und Herren, ich sehe hier ein paar neue Gesichter, wenn Sie sich bitte einmal vorstellen möchten?« Er blickt zu einer Frau um die dreißig, die, scheinbar unter der Last ihres enormen Übergewichts zusammengesunken, auf einem Stuhl am Fenster sitzt und jetzt erschrocken zusammenfährt.
» Ja, genau Sie meine ich«, ermuntert Weimers sie erneut,
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