Drüberleben
Mädchen, mit dem die anderen Kinder nicht spielen wollten. Dieses eine Mädchen, das immer irgendwo am Rand sitzt und von den Müttern ein bisschen mitleidig angeschaut wird. Das war mir egal. Ich fand das in Ordnung, für mich war das Normalität. In der Grundschule änderte sich das nicht, und später, auf dem Gymnasium, wurde es sogar noch schlimmer.«
» Das muss sehr traurig für Sie gewesen sein.«
» Es war ja kein Zustand, der plötzlich auftrat. Es gab keinen plötzlichen Absturz, es gab keine Fallhöhe«, erkläre ich gleichmütig und mit der Gelassenheit eines Menschen, der seine eigene Geschichte so häufig durchdacht hat, dass die Dramen, die dahinterliegenden Emotionen nur noch in einsamen Momenten zutage treten– nicht mehr bei dem bloßen Erzählen des Geschehenen.
» Wie ging es weiter? Wie erlebten Sie Ihre Zeit auf dem Gymnasium?«
» Die Zeit war nicht viel anders als die Jahre zuvor. Ich hatte drei Freunde– Peer, Sebastian und Julia–, und mit ihnen habe ich die meiste Zeit verbracht. Zumindest mit Peer und Sebastian. Mit Julia irgendwann nicht mehr.« Ich stocke und bemerke, wie meine verschwitzten Hände unablässig an meinen Oberschenkeln reiben.
» Warum mit Julia nicht mehr?«, fragt Frau Wängler, und ich beginne, auf meiner Unterlippe zu kauen.
Ich schweige und spüre den abwartenden Blick meiner Therapeutin. Ich kann nichts sagen, bin völlig außerstande, auch nur ein Wort zu sagen.
» Frau Schaumann: Warum haben Sie sich irgendwann mit Julia nicht mehr getroffen?«, hakt sie nach.
» Weil sie gestorben ist«, flüstere ich.
Ein leichtes Zittern meines Mundes verrät, dass es Zeit ist. Dass es jetzt endlich Zeit ist, die alten Tränen zu weinen, sie abzuwischen, sie abzuspülen in die Kanalisation der Stadt, in die sie hineingehören wie all die schmutzigen Tage und Nächte der letzten Jahre.
» Woran ist sie gestorben?«, fragt Frau Wängler.
» Sie hatte einen Unfall«, antworte ich, mit einem Mal voller Zorn, » einen verdammten Unfall.«
Frau Wängler schweigt und sieht mich an. Sieht mich mit einem Gesicht an, das keine Miene verzieht und aus dem kein Entsetzen und kein Mitgefühl zu lesen ist.
» Sie sagen ja gar nicht, dass Ihnen das leidtut. Oder dass Sie verstehen, wie wütend ich bin, und dass das alles ja wirklich eine ganz tragische Angelegenheit ist.«
» Wünschen Sie sich, dass ich so etwas sage?«, fragt sie.
» Die meisten reagieren so«, antworte ich, » nein, eigentlich reagieren alle so.«
» Und wie finden Sie diese Reaktion? Empfinden Sie sie als angemessen?«
» Ich kann es nicht mehr hören. Ich weiß, dass das alles ganz schrecklich war und dass ich bestimmt niemals über den Verlust hinwegkommen werde und dass ich jetzt bis an mein Lebensende darunter leiden muss, dass ich eine tote beste Freundin habe.«
» Gut, dann hätten wir ja einen Anhaltspunkt für Ihr Leiden, nicht wahr?«, entgegnet sie und lächelt wieder ihr undurchdringliches Lächeln.
» Das ist doch absurd! Mir ging es vorher auch nicht gut. Ich ertrage dieses Gefühl schon mein halbes Leben lang. Der Unfall war nur ein äußerer Fixpunkt, der plötzlich alles so erklärbar erscheinen ließ. Mit einem Mal hat niemand mehr gefragt, warum ich so einen niedergeschlagenen Eindruck mache. Niemand hat mehr gefragt, warum ich die meiste Zeit allein war. Niemand hat mehr irgendetwas gefragt.«
» Wie perfekt arrangiert für Sie.«
» Wie bitte?«
» Sie erzählten, dass Sie sich vorher auch schon immer missverstanden und traurig gefühlt haben. Dann erzählten Sie, dass Ihre beste Freundin starb und Sie endlich von allen in Ruhe gelassen wurden, weil jetzt jeder verstehen konnte, warum es Ihnen so schlecht ging. Das war doch perfekt für Sie, nicht wahr? Keine Fragen mehr, keine Erklärungen und Sie konnten sich ganz in Ruhe um sich und Ihr Leid kümmern.«
» Sie wollen mir gerade erzählen, dass ihr Unfall Glück für mich war? Dass ich mich gefreut habe, dass sie tot war, damit ich mich fröhlich in meinem eigenen Dreck wälzen konnte?«
» Wenn ich mich irre, sagen Sie es mir gerne«, lächelt Frau Wängler und lehnt sich scheinbar selbstzufrieden zurück.
Ich verliere die Beherrschung. » Das ist also tatsächlich Ihr Ernst, ja?«, schreie ich. » Ich kann nicht begreifen, was Sie da gerade gesagt haben. Um es auf den Punkt zu bringen: Sie behaupten, dass ich eine egozentrische, ja sogar narzisstische Person bin, die den Tod eines Menschen dazu nutzt, sich selbst zu
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