Drüberleben
theoretische Möglichkeit der Praxis an jedem Ort näher ist als an einem Strand. Das Meer ist die Grenze, ist das Ende, bis hierhin und nicht weiter.
Wie gut, dass Julia und ich nicht zum Meer wollen, sondern nur nach Hause. Julia schaut zum Fenster hinaus, in den Himmel voller Mikrostädte, die Augen halb geschlossen. Im Kassettendeck läuft ihr Tape, es ist ein Mix, den sie » Summer of I and J« genannt hat, und damit ist der Sommer gemeint, den wir beide noch zu bewältigen haben. Die Straße ist verlassen, und das Auto, das ich noch nie zuvor gesehen habe, fährt ruhig und konstant die Geschwindigkeit, die es will. In diesem Fahrzeug gibt es kein Gaspedal und keine Bremse, und trotzdem gibt es eine Fahrerin, und die bin ich. Ich könnte nicht genau sagen, was ich hier tue, könnte nicht ankündigen, was als Nächstes passiert.
Julia wendet ihren Kopf und sieht mich aus müden Augen lächelnd an. Ein guter Moment. Sie legt mir die Hand in den Nacken und streichelt meinen Hinterkopf, als seien wir ein Liebespaar, das wir im Grunde ja auch sind. Aus den Boxen fallen die ersten Takte unseres Lieblingsliedes in unsere Ohren, und Julia schreit etwas, das ich nicht verstehe, weil ihre Finger schon die Lautstärke auf ihr Maximum gedreht haben. Sie zündet sich eine Zigarette an und dann noch eine, die sie mir reicht. Ich lehne mich im Sitz zurück und streife meine Schuhe ab, während dunkelblaue Wälder und ein fast schwarzer Himmel an den Fenstern vorüberziehen.
Julias Hand in meinem Nacken greift überraschend fest zu und erschreckt mich so sehr, dass ich die Zigarette erst wiederfinde, als sie schon ein Loch in die Haut meines Oberschenkels gebrannt hat. Als ich sie im Aschenbecher ausdrücken will, greift Julia danach und rammt sie mir in die Hand. Ich schreie auf und versuche die Glut aus meinem Handrücken zu ziehen, aber sie ist schon in meiner Haut und brennt sich ein, verteilt sich in allen Fingern und in meinem Arm wie kleine Tiere aus den Filmen, in denen etwas außergewöhnlich Außerirdisches passiert. Entsetzt blicke ich Julia an, die zu lachen beginnt und meinen Namen schreit, als ich nach dem Lenkrad greife und es mit einem Ruck nach rechts lenke. Julia schreit, und ich lache, sie schreit, und ich schreie jetzt auch, denn meine Hände sind mit dem Lenkrad verwachsen, sind mit einem Mal eins geworden, und meine Arme sind ein Arm geworden, sind eine Faust geworden, die mit dem Lenkrad verschmolzen ist, während sich die Glut in meinem Körper ausbreitet. Wir schreien gemeinsam, und fast klingt es nach einem Chor, der in der Nacht seine Königin beweint, und erst der blaue Baum, um den sich das Auto und unsere brennenden Körper wickeln, empfängt uns mit großen Armen, die so stark sind, dass sie alles Leben einfach zerdrücken.
Ich höre sie meinen Namen rufen, höre, wie sie unablässig meinen Namen wiederholt, und atme ein und atme aus und öffne die Augen.
Julia hat sich in den Morgen verwandelt, hat sich in das Gesicht der Gräfin verwandelt, die über mir gebeugt meinen Namen wiederholt und nicht nach Rettung aussieht, sondern nach Aufstehen.
» Frau Schaumann, Sie waren nicht beim Frühstück, und Ihre Tabletten haben Sie auch nicht abgeholt. In einer halben Stunde möchte ich Sie spätestens angezogen vor mir sehen, wir hätten da etwas zu besprechen«, raunt sie mir zu und ist so schnell aus der Tür heraus, dass ich noch nicht einmal die Zeit finde, mich zu erklären. Ohnehin: Was gäbe es für eine schlüssige Erklärung für mein Ich, das um zwanzig nach neun noch immer im Bett liegt und so wenig bereit ist, sich um das Klingeln eines Weckers zu kümmern wie um die Tatsache, dass das Frühstück nun auch zu den Dingen zählt, die für heute in der Vergangenheit liegen.
Etwa eine halbe Stunde später stehe ich geduscht vor dem Pflegerraum und warte auf weitere Einsatzbefehle der Gräfin. Sie steht abrupt von ihrem Stuhl auf, als sie mich vor der Glasscheibe stehen sieht, und schaut vorwurfsvoll auf die Uhr. Eine nonverbale Geste, deren Wirkung gemeinhin überschätzt wird. Ich teile ihr die Uhrzeit mit, und sie kneift die Augen zusammen, wie sie es immer tut, ständig und immerzu, sodass auch diese Geste im Nimbus der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden droht, wenn, ja wenn es sich hier nicht um die Gräfin handeln würde. Die Gräfin findet derlei Witzigkeiten nicht amüsant.
» Ich weiß, wie spät es ist, Frau Schaumann. Es ist zehn Minuten nach der Zeit, zu der Sie hier sein
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