Drüberleben
und die Frau richtet sich ein wenig auf, ihre Hände verkrampft im Schoß massierend.
» Ja, also ich bin Andrea, und ich bin zweiunddreißig Jahre alt und…«, sie stockt und ringt um Worte.
Weimers erklärt nach einer Minute des Schweigens an die Gruppe gewandt: » Also nun gut, das reicht ja auch, Sie müssen ja nicht gleich alles von sich erzählen. Wir sind ja hier nicht bei der Stasi.« Er lacht. Niemand sonst.
Andrea fällt wieder in sich zusammen, und das Weiß ihrer Knöchel tritt deutlich hervor. Ich wende den Blick ab.
Als Nächstes stellt sich Marie vor, eine sechsunddreißigjährige Hausfrau: » Hi«, sagt sie und: » ich bin die Marie, und was soll ich sagen, mein Mann hat mich hier reingesteckt.« Sie lacht. Wir schauen entsetzt. Sie lächelt entschuldigend. Ein paar Patienten murmeln » hallo«, und Herr Weimers nickt zufrieden: » Guti, Sie haben den Job.«
Dann wendet er sich mir zu mit einem Blick, der mir bedeuten soll, dass ich jetzt an der Reihe bin mich zu offenbaren, dass ich jetzt sagen muss, dass ich die Ida bin. » Hallo, ich bin Ida«, sage ich und entgehe den abwartenden Blicken der anderen, indem ich den blauen Fußboden anstarre, auf dem sich bereits zahlreiche Flecken und undefinierbarer Schmutz ausgebreitet haben. Manche von ihnen sehen aus wie noch feuchte, übergroße Tränenflecke. Ich beschließe, sie noch genauer zu begutachten und gegebenenfalls ein paar fantasievolle Gedanken dazu zu entwickeln, wie es verträumte Menschen angeblich immer bei Wolken so machen.
(Wie viele Menschen haben schon auf diesen Teppich geweint? Und wie viele Schuhe sind über ihn gelaufen, sind vielleicht zum letzten Mal über das hässliche, fleckige Muster gelaufen, um dann hinauszugehen in diese Welt, die sich Alltag nennt? Mit wie vielen von ihnen habe ich mir schon eine Sitzbank in der U-Bahn geteilt, habe denselben Bankautomaten angefasst, ihr Geld in meiner Börse mit mir herumgetragen? Wie vernetzt sind wir wirklich alle, und sind Tränen eigentlich so ansteckend wie Lachen? Wie viele Entschlüsse hat es wohl gebraucht, bis sie hierhergefunden haben, und wie viele Momente, in denen sie genau das bereut haben? Kann man sich eigentlich dazu entschließen, verrückt zu werden, oder kommt das Verrücktsein nur zu denen, die nicht darauf warten, so, wie man es immer von der Liebe behauptet? Und ist diese Annahme eine genauso große Lüge wie jene von der Liebe? Wie viele Menschen haben bloß auf diesen Teppich geheult, dass so große Flecken entstehen konnten? Und kann man sich wirklich dazu entschließen, sich in eine solche Gruppe zu setzen, oder ist dieser Entschluss nur ein winziger Teil einer viel größeren Entscheidung: der Entscheidung, dass endlich alles besser werden muss?)
Herr Weimers hingegen hat beschlossen, dass ich jetzt definitiv an der Reihe bin, noch mehr zu sagen, schließlich ist das Verhältnis des Gesagten zwischen mir und den anderen geradezu skandalös unausgeglichen. Er hat außerdem beschlossen, diese Aufforderung nonverbal auszudrücken, indem er mich weiterhin lächelnd anstarrt und dabei auffordernd nickt.
Ein paar genervte Seufzer unterbrechen schließlich die wortlose Unterhaltung unserer Köpfe, und auch Weimers seufzt jetzt und scheint entschieden zu haben, dass unsere Unterhaltung fürs Erste verlegt wird. Stattdessen beginnt er nun, die Gruppe zu » erklären«, was bedeutet, dass er sie Andrea und Marie erklärt, während er mich ignoriert und der Rest der Gruppe noch immer gelangweilt aus Fenstern und Augenwinkeln starrt.
Der Sinn dieser Gruppe, so Weimers, liege darin, eine genauere Vorstellung der Hintergründe einer depressiven Episode zu bekommen. Außerdem gäbe er uns hier die Gelegenheit, Themen rund um das Bild der Depression anzusprechen und somit zu einem tieferen Verständnis unserer selbst zu gelangen, während wir im gleichen Augenblick bemerken würden, dass wir nicht allein, nein, dass wir sogar viele seien und uns nicht zu schämen bräuchten, denn hier verstünde jeder jeden und er uns sowieso, das sei ja schließlich sein Job, nicht wahr, und jetzt könnte auch schon einer beginnen, hätte denn wohl jemand ein Thema für heute, bitte sehr?
Stille breitet sich aus, während sich Simon auf dem Platz gegenüber ausstreckt und genüsslich gähnt und Nina an ihren Fingernägeln kaut, als würden sie das Essen ersetzen, das sie gewöhnlich verschmäht. Marie hebt den Arm, und Weimers fordert sie mit einem Nicken auf zu sprechen.
» Ja,
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