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Drüberleben

Drüberleben

Titel: Drüberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Weßling
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gekocht und aufgeräumt hat und mit Geschichten wie Umarmungen am Tisch auf uns wartet. Da ist einfach niemand. Keiner, der da ist, und auch keiner, der vorbeikommt. Ich sehe auf die Köpfe der anderen und sehe, wie sie sich fragen, ob da vielleicht doch jemand ist. Irgendjemand. Ob sie nicht doch ein bisschen weniger allein sind, als sie glauben. Die Antwort scheint bei allen die gleiche zu sein: Nein.
    Nein, da ist keiner, denkt Walter, weil keiner mit einem was zu tun haben will, der schon mal gesessen hat.
    Nein, keiner, denkt Florian, aber es waren mal welche da.
    Der Mann ist ein Niemand, denkt Marie.
    Niemand, der irgendwas verstehen würde, denkt Nina.
    Es ist niemand da, weil ich niemanden brauche, denkt Simon, der leise lächelt.
    » Da ist ja niemand« wird zu einem Code in einer Gruppe, die sich nicht viel mehr teilt als Diagnosen und Fragen, die immer gleichen Fragen, die meistens mit » Warum« anfangen und mit » ich« aufhören. Der Code einer Gruppe, die schweigt in dem Einvernehmen, dass das Übersehen der anderen manchmal so viel leichter ist als Augen auf und durch.
    » Warum ist da niemand?«, fragt Nina schließlich nach einer scheinbar endlosen Weile des Schweigens.
    » Ach, guck mich doch an«, antwortet Andrea und zeigt an sich herunter. » Sag mir mal einen, der mit so einer was zu tun haben will.«
    Nina richtet sich auf ihrem Stuhl auf und zieht die Augenbrauen zusammen. » Jetzt hör aber mal auf, Andrea. Ich finde, du wirkst sehr nett! Und Aussehen spielt ja wohl keine Rolle, wenn es darum geht, ob man Freunde hat oder nicht.«
    » Ha, das sagt ja die Richtige«, bemerkt Simon und lacht sein höhnisches Lachen. Nina straft ihn mit einem wütenden Blick und beginnt wieder an ihren Fingernägeln zu kauen.
    » Wer kann denn noch ein Liedchen singen von ähnlich unsensiblen Reaktionen des Umfeldes?«, fragt Weimers nun, um den Konflikt zu beenden.
    Alle heben vorsichtig die Hand.
    Walter spricht als Erster: » Ich habe ja nun eine andere… Geschichte erlebt als die anderen. Vermute ich mal. Aber als ich verhaftet und in die Klinik gesteckt wurde, da hat selbst Mutter gesagt, dass sie so einen Sohn nicht erzogen hat. Was ja Quatsch ist, weil sie mich natürlich erzogen hat. Aber der Heini, mein Bruder, wollte auch nichts mehr mit mir zu tun haben. Dem seine Frau hat gesagt, er soll die Finger von so Kriminellen wie mir lassen. Tja, und da sitze ich jetzt hier und kann noch nicht mal mehr wen anrufen.«
    » War bei mir ähnlich«, sagt Florian jetzt, » obwohl ich das auch kaum jemandem erzählt habe. War schon irgendwie ziemlich peinlich, das alles. Ich hab nur mit meinem besten Freund darüber gesprochen, aber der hat das wohl jemandem erzählt, oder die Nachbarn haben das mitbekommen oder keine Ahnung. Jedenfalls wussten ziemlich schnell alle, dass ich so ein Freak bin und jetzt in der Klapse stecke. Hab versucht mit den Jungs Kontakt zu kriegen, aber die reagieren noch nicht mal mehr, wenn ich die anskype. Ist so, als ob ich tot wär.«
    Walter legt ihm eine Hand auf die Schulter.
    Peter räuspert sich und beginnt leise zu erzählen: » Als ich hierhergekommen bin, war ich innerlich auch tot. Ich glaubte, dass das niemals wieder gut wird. Dass ich jetzt damit leben muss, dass ich alles verhauen habe, dass ich’s nicht geschafft habe, anständig zu leben und etwas Gutes zu schaffen. Ich hatte die beiden Kinder, aber die sind mir auch immer fremder geworden. Und die ersten Wochen saß ich jeden Abend auf dem Bett und habe darauf gewartet, dass mich der Schlag trifft. Zum Glück kam aber nie irgendetwas. Mir ist nicht das Herz stehengeblieben, auch wenn ich manchmal gedacht habe, dass das bestimmt gleich passiert, bei der ganzen Angst vor allem. Und irgendwie ist das dann besser geworden. Ich meine, es ist nicht irgendwie besser geworden, sondern dadurch, dass ich an mir gearbeitet habe. Und dass ich hierbleiben durfte. Und dass ich kapiert habe, dass so eine Krankheit auch ein Zeichen ist. Klingt komisch, ich weiß. Aber ich habe verstanden, dass das auch einfach eine Warnung sein kann. Dass das kleine Männchen im Kopf sagt, pass auf jetzt, so geht’s nicht weiter.«
    Ich muss an einen dieser Schlaganfallpatienten denken, die immer in Illustrierten oder in der Apothekenrundschau davon berichten, dass so ein Schlag, so ein Einschlag in das eigene Leben endlich alles geändert hat. Dass sie jetzt an sich arbeiten und Sport treiben und wissen, was wirklich wichtig ist im Leben.
    Peter

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